Ukrainischer Ex-Außenminister: Verzerrter Pazifismus tötet
Auf den Onlineseiten der Berliner Zeitung ist ein offener Brief veröffentlicht worden: gegen Waffenlieferungen an die Ukraine. Hier die Widerrede.

Ein Offener Brief von linken Intellektuellen, der den Stopp von Waffenlieferungen an die Ukraine fordert, hat für eine Kontroverse gesorgt. Hier antwortet Pavlo Klimkin. Er war Außenminister der Ukraine (2014-2019) und Botschafter der Ukraine in der BRD (2012-2014).
Ich habe viele Jahre in Deutschland gearbeitet, ich kenne und liebe dieses Land. Deshalb tut es mir fast körperlich weh, wenn wichtige Vertreter dieses Landes die Gründe und Ziele des russischen Krieges gegen die Ukraine nicht verstehen oder so tun, als ob sie sie nicht verstehen würden. Zum Beispiel: Wie es in einem neulich veröffentlichten Offenen Brief steht, der auf den Onlineseiten der Berliner Zeitung veröffentlicht wurde. Ich befürchte, dass dieser Brief Zeugnis einer breiteren Zurückhaltung oder Unfähigkeit ist, die Essenz des heutigen Russlands zu verstehen.
Anfang dieses Jahres inszenierte Russland öffentliche Forderungen nach Garantien der Nato-Nichterweiterung. Ernsthafte Verhandlungen werden auf so eine Weise nicht geführt. Russland braucht keine Garantien, es glaubt nicht an sie. Wladimir Putin traut dem Westen überhaupt nicht, er will sich an keine Regeln halten, im Gegenteil, er braucht sie nur, um seine Ziele zu erreichen. Russland hat wiederholt gegen die UN-Charta verstoßen, ist aber weiterhin Mitglied im Sicherheitsrat mit Vetorecht. Diese schizophrene Situation tötet den Begriff des Völkerrechts. Dieses Völkerrecht ist gegen die Interessen und Prinzipien Deutschlands oder der Ukraine, aber es ist sehr vorteilhaft für den Kreml.
Auch Deutschland sollte zur Rechenschaft gezogen werden
Wladimir Putins wahres Ziel ist ein ganz anderes. Er will Einfluss zurückgewinnen. Die Ukraine muss Teil der russischen Sphäre sein. Und wenn die Ukraine das nicht will, wird sie einfach zerstört. Wir werden entweder als Vasallen oder als Feinde angesehen, die keine Daseinsberechtigung haben – genau so.
Putin nannte die Ukraine „Anti-Russland“ und manipulierte die Geschichte und untermauerte sie mit seiner Ideologie. Die Russen haben keinen Platz, kein Verständnis für die Ukraine, für ihre Geschichte, ihre Sprache. Es ist so weit gekommen, dass die Erwähnung der Kyjiwer Rus aus russischen Lehrbüchern gestrichen wird.
Deshalb hat Russland keine „begründeten Sicherheitsinteressen“. Es hat das Nuklearpotenzial, sich zu verteidigen. Das ist übrigens das Einzige, worüber es verfügt, denn der erbärmliche Zustand ihrer Armee ist mittlerweile allen bekannt.
Durch die deutsche Weigerung, der Ukraine Waffen zu liefern, wird Deutschland für Tausende neuer Opfer zur Rechenschaft gezogen werden müssen. Wladimir Putin wird ernsthafte Gespräche nur in jenem Fall aufnehmen, wenn er keine weiteren Kämpfe führen kann. Er bewegt sich in einem ganz anderen Wertesystem.
Für ihn stellen Menschenleben keinen Wert dar. Auch zu Ostern wollte er von keinem Waffenstillstand sprechen. Deshalb klingt der Vorschlag, die Ukraine müsse einem Waffenstillstand zustimmen und ernsthafte Gespräche mit Russland führen, in gemütlichen Büros vielleicht gut. Doch dieser Vorschlag versteht Putin und das Wesen seines Regimes nicht. Die Zeiten haben sich geändert. Waffenlieferungen retten Leben und verzerrter Pazifismus tötet.
Die Ukrainer macht der Offene Brief wütend
Die Weigerung, der Ukraine Waffen zu liefern, wird den Krieg nicht beenden. Im Gegenteil: Diese Entscheidung würde zu einem hybriden Krieg führen, in dem es weder Regeln noch klar definierte Parteien gibt. Das in dem Offenen Brief erwähnte humanitäre Völkerrecht würde vollständig außer Kraft gesetzt werden. Wir wissen jetzt, wer welche Waffen hat und wer mit wem Krieg führt. Stellen Sie sich vor, dass sich dies komplett ändern wird.
Die von den Verfassern des Schreibens erwähnten möglichen Verhandlungspositionen machen fast alle Ukrainer, die täglich in Gefahr sind, wütend. Warum sollte die Ukraine die international anerkannten Grenzen aufgeben? Und was ist das Völkerrecht danach noch wert?
Was den Beitritt oder Nichtbeitritt zu Verteidigungsbündnissen betrifft, so sollte diese Entscheidung ausschließlich von der ukrainischen Gesellschaft und von niemand anderem sonst getroffen werden. Eigentlich kämpfen die Ukrainer genau dafür – für die Fähigkeit, ihre eigenen Entscheidungen über ihre Zukunft zu treffen.
Deutschland hat die Wahl
Die Ukrainer verlieren diesen Krieg nicht. Für uns ist dies kein Krieg um Territorien oder Bedingungen. Dies ist ein Krieg um unsere Existenz als Land und Nation. Deutschland hat eine sehr einfache Wahl. Werden Sie jetzt zum Führer Europas und tun die Deutschen alles Mögliche und Unmögliche, um den russischen Krieg gegen die Ukraine zu stoppen? Werden die Deutschen führend in Diskussionen über ein echtes Sicherheitssystem sein, in dem jeder, der gegen die Regeln verstößt, mit der völligen politischen und wirtschaftlichen Isolation rechnen muss?
Oder werden die Deutschen nichts tun und Russland erlauben, weiterhin Tausende und Abertausende von Menschen zu töten? Das würde auch die Erhöhung der Zahl der Flüchtlinge bedeuten, die bereits mehr als zehn Millionen erreicht hat. Und dies würde eine weitere Zerstörung der Ukraine und Europas bedeuten. Deutschland hat jetzt die Wahl.
Pavlo Klimkin war Außenminister der Ukraine (2014-2019) und Botschafter der Ukraine in der BRD (2012-2014).
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