Papst Benedikts Herausgeber: Helmut Kohl wollte auch Katholiken und Protestanten wiedervereinigen

In Ratzingers letztem Buch geht es um sexuellen Missbrauch im Vatikan, aber auch um die Rolle des CDU-Kanzlers bei der Ökumene. Wir sprachen mit dem Herausgeber.

Rom im Dezember 2012: Als Joseph Ratzinger noch Papst war. Benedikt winkt den Gläubigen zu. 
Rom im Dezember 2012: Als Joseph Ratzinger noch Papst war. Benedikt winkt den Gläubigen zu. Milestone Media/Imago

Am 31. Dezember verabschiedete sich Benedikt XVI. endgültig aus dieser Welt. Doch bevor er starb, schrieb er noch ein Buch, das aber erst nach seinem Tod veröffentlicht werden durfte. „Was ist Christentum. Ein fast geistliches Testament“ lautet der unscheinbare Titel. Doch die 200 Seiten haben es in sich. Herausgeber sind der frühere Privatsekretär Benedikts, Monsignore Georg Gänswein, und der italienische Theologe Elio Guerriero. „Anlass zu diesem Buch ist der Dialog mit dem Judentum gewesen“, erklärt Guerriero gegenüber der Berliner Zeitung. „Ratzinger wurde nämlich von manchen deutschen Theologen beschuldigt, einen konstruktiven Dialog mit der jüdischen Gemeinde zu verhindern.“

Im Jahr 2018 veröffentlichte Ratzinger einen 20-seitigen Text in der deutschen Zeitschrift Communio. „Gnade und Berufung ohne Reue“, betitelte Ratzinger seine Anmerkungen zum Traktat „De Iudaeis“ (Die Juden). Insbesondere führten seine Ausführungen zur Substitutionstheologie, zum Bundesverständnis und zum Staat Israel zu starken Reaktionen. Benedikts Sicht auf das Judentum wurde heftig kritisiert, jedoch sah die jüdische Gemeinde selbst keinerlei Antisemitismus in dem Werk. „Der Oberrabbiner von Wien verteidigte den Papst“, sagt Guerriero.

Warum fürchtete Benedikt die deutsche Reaktion?

„Er bemerkte nichts Antisemitisches darin, ganz im Gegenteil. Es wurde sogar eine jüdische Delegation nach Rom geschickt, um Benedikt für seine Worte zu danken. Der Oberrabbiner von Wien, Arie Folger, und der Oberrabbiner von Rom, Riccardo di Segni, erklärten sogar mit Benedikt einverstanden zu sein und baten mich, seine Meinung zu verbreiten. Von den deutschen Theologen kam dagegen nie eine Entschuldigung“, erzählt Guerriero, der auch Ratzingers persönlicher Biograf ist.

Zeit seines Lebens wollte Benedikt auch deswegen nichts mehr veröffentlichen. Besondere Bedenken hatte er hinsichtlich der Reaktion aus Deutschland. „Die Wut der Kreise gegen mich in Deutschland ist so groß, dass das Erscheinen jedes meiner Worte sofort ein mörderisches Geschrei ihrerseits auslösen würde. Das will ich mir und der Christenheit ersparen“, liest man in Benedikts posthum erschienenes Werk.

Wieso erschien das Buch bis jetzt nur auf Italienisch?

Bis jetzt wurde das Buch nur auf Italienisch veröffentlicht, was aber das spätere Erscheinen einer deutschen Version nicht zwingend ausschließt. „Es war einfach praktischer, alle Texte zunächst auf Italienisch zu publizieren, da die Initiative von mir kam“, sagt Guerriero, dessen „theologische Kompetenz“ von Joseph Ratzinger im Vorwort hervorgehoben wird: „Wir haben diesen Band zusammen auf die Welt gebracht, aber eine deutsche Version sollte bald erscheinen.“

Benedikt liebte Deutschland und seine Heimat Bayern, erklärt Guerriero, auch wenn er die meiste Zeit seines Lebens in Rom verbrachte. Papst Johannes Paulus II. hatte ihn nämlich schon im Jahr 1981 zu sich in den Vatikan geholt. Ratzinger selbst konnte sich nie erklären, wieso seine Worte solch starken Reaktionen ausgerechnet in Deutschland auslösten. „Die Angelegenheit ist auch ein bisschen politisch“, begründet Elio Guerriero.

Helmut Kohls und Ratzingers Meinungsverschiedenheiten

„Als 1990 die Einigung Deutschlands stattfand, ereignete sich auch ein politischer Schub, der vom katholischen Bundeskanzler Helmut Kohl vorangetrieben wurde. Sein Ziel war es, in Deutschland zu einer Ökumene der katholischen und der evangelischen Konfession zu kommen. Benedikt hegte einige Bedenken, insbesondere bezüglich der divergenten Auffassung der Eucharistie, was er mehrmals betonte.“ Kohl war für seine ökumenische Offenheit bekannt, konfessionalistisch schien er nie zu denken. Deswegen pflegte er behutsam den Dialog zwischen evangelischer und katholischer Konfession. Zu einer Vereinigung der Konfessionen kam es jedoch bekanntermaßen nicht.

Berlin, 16.09.1998. Ein Plakat von Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) im Wahlkampf.
Berlin, 16.09.1998. Ein Plakat von Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) im Wahlkampf.Imago/Ipon

Das wäre der Bruchpunkt zwischen Ratzinger und seiner geliebten Heimat gewesen. „Er wurde immer als derjenige betrachtet, der sich gegen diesen Dialog zwischen den Konfessionen stellte“, erläutert der Theologe. „Benedikt fragte sich oft, wie es so weit kommen konnte“, sagt Guerriero. „Er beobachtete einen Rückgang der Moral in der Gesellschaft infolge der 68er-Bewegung. Konsequenzen gab es dann auch in der Kirche. Das war für Benedikt einer der Gründe, weshalb sexueller Missbrauch immer öfter vorkam – und nicht nur in der Kirche, sondern in der gesamten Menschheit. Ratzinger erwähnte auch, dass die Pädophilie eine Zeit lang von manchen Intellektuellen gerechtfertigt wurde, und das hätte zu einem Zusammenbruch der öffentlichen Moral geführt.“

Benedikts Sicht von Israel

Der Papst, der sich eigentlich offen zu einem Dialog zeigte, wurde jedoch von den Medien täglich angegriffen. Seine Worte wurden von mehreren Journalisten nicht richtig dargestellt, geschweige denn seine Vision. Für Ratzinger war der Dialog von grundlegender Bedeutung. Zwischen Religionen, aber auch zwischen Gläubigen und Nicht-Gläubigen. Insbesondere wollte er die Beziehung mit dem Judentum pflegen. Das Bündnis zwischen Juden und Katholiken sei vor allem wegen des gemeinsamen heiligen Buchs, der Bibel, stark und eindeutig.

Wenn Religionen sich zu sehr mit dem Staat verbünden, neigen sie dazu, von diesen für gewalttätige Zwecke ausgenutzt zu werden.

Elio Guerriero

Die allergrößte Frage aber bezieht sich auf den Staat Israel. Für Ratzinger sollte dieser auf einer säkularen Grundlage basieren, anstatt auf einer religiösen. Das hätte sich Benedikt für alle Religionen gewünscht, wie er selbst in einer Rede in Regensburg äußerte. „Ziel sollte sein, Religion von der Gewalt getrennt zu halten“, erklärt Guerriero. „Wenn Religionen sich zu sehr mit dem Staat verbünden, neigen sie dazu, von diesem für gewalttätige Zwecke ausgenutzt zu werden. Heute ist das der Fall im Iran, in Afghanistan und vermutlich auch in Israel. Wenn man von einer säkulären Vision des Staates ausgeht, kann man einen Dialog besser führen. Gleichzeitig läuft man nicht die Gefahr, die Religion dem Staat zu unterwerfen, und zwar mit Folgen, die manchmal zur Gewalt führen können.“

Der Konflikt mit Franziskus: „eine Erfindung der Medien“

Der angebliche Konflikt mit Papst Franziskus nach Benedikts Rücktritt sei nur eine Erfindung der Medien: „Bergoglio hat mehrmals behauptet, dass er sich an Ratzinger wandte, wenn er einen Rat benötigte, und dieser hat ihn auch immer als Papst ‚gehorsam‘ anerkannt“, sagt Elio Guerriero. Zwei komplett verschiedene Päpste, aber diese Differenzen seien auch Teil des Reichtums der Menschheit und des Katholizismus.

September 2014: Papst Franziskus drückt die Hände seines Vorgängers Benedikt XVI.
September 2014: Papst Franziskus drückt die Hände seines Vorgängers Benedikt XVI.Azzurra Primavera/Imago

Benedikts Vision von Europa

Viel schreibt Ratzinger in seinem Leben auch über Europa. „Das war ihm sehr wichtig, wie auch seinem Vorgänger Johannes Paulus II.“, sagt Elio Guerriero. „Man muss berücksichtigen, dass diese zwei Männer ein richtiges Bündnis geschlossen haben, zwischen zwei Ländern wie Deutschland und Polen, die sich während des Krieges brutal bekämpft haben“, erklärt Benedikts Herausgeber. „Ratzingers Vision von Europa hing mit der von Johannes Paulus II. zusammen und hatte mit den christlichen Wurzeln zu tun. Diese Wurzeln aufzubewahren war auch ein Weg, um den Dialog mit den Orthodoxen zu erleichtern.“

Um diese Wurzeln aufzubewahren, sprach Ratzinger von zwei unterschiedlichen Europas. Das erste, katholische, stammte vom karolingischen Reich, das zweite, orthodoxe, vom byzantinischem. Damals galt Moskau als das „dritte Rom“ und etablierte eine eigene Form von Europa. Der Dialog zwischen diesen zwei Welten war für Benedikt unverzichtbar. In diesen zwei Europas hätten die katholische und orthodoxe Kirche die Möglichkeit, einen Dialog zu führen, weil die Religion eine und dieselbe ist.

„Er wollte Europa eine große Bedeutung geben, deshalb hat er auch den Namen Benedikt gewählt, da Sankt Benedikt Europa durch die Gründung von Klöstern christianisiert hatte“, sagt die italienische Historikerin und Journalistin Lucetta Scaraffia. „Er machte sich Sorgen über den Verlust der europäischen christlichen Wurzeln und war davon überzeugt, dass dies einen Identitätsverlust bedeutet hätte. Einerseits für Europa und andererseits für den Katholizismus.“

Eine wichtigere Rolle der Frau innerhalb der Kirche

In seiner Zeit im Vatikan habe Joseph Ratzinger sich auch bemüht, die Rolle der Frau in der kirchlichen Institution aufzuwerten. „Er hat bemerkenswerte Dinge getan“, sagt Scaraffia. „Als allererstes hat er mir und vielen anderen Frauen ermöglicht, für den Osservatore Romano zu schreiben [die offizielle Zeitung des Vatikans, Anm. d. Red.]“.

Lucetta Scaraffia war jahrelang Professorin an der römischen Universität La Sapienza. Ihr Kampf für eine würdigere Rolle der Frau in der Gesellschaft, verschaffte ihr in Italien die Bezeichnung „Feministin“. „Der Papst hat etwas Außergewöhnliches getan. Er hat Hildegard von Bingen heiliggesprochen und als Doktor der Kirche nominiert. Die Kirche hatte sie eigentlich nie wahrgenommen, obwohl sie eine wichtige Intellektuelle gewesen ist.“

Was tut Bergoglio für Frauen?

Anders als sein Nachgänger Franziskus, schien Ratzinger wirklich an eine neue Rolle der Frau in der Kirche zu glauben. „Bergoglio redet viel und handelt wenig“, äußert sich Scaraffia. „Er hat viele Frauen in kirchlichen Führungspositionen untergebracht, aber es sind Frauen, die keinen besonderen Einfluss haben. Das hat zweierlei Gründe: Erstens, wenn es hundert Männer gibt und eine Frau, dann zählt diese nicht. Zudem sind es auch super gehorsame Frauen und genau wegen ihrer Gehorsamkeit sind sie ausgewählt worden.“ Lucetta Scaraffia nennt das Ganze reine Fassade.

„Das Erste, was man in der Kirche machen müsste, um der Frau ihre Würde zurückzugeben, wäre das Problem der missbrauchten Ordensfrauen zu lösen. Es genügt nicht, wenn hier und da einer Frau eine Führungsposition zugewiesen wird.“ Sexueller Missbrauch von Ordensfrauen ist weltweit verbreitet. In mehreren Fällen nutzen die Täter ihre Position als Beichtväter, oder geistliche Begleiter der Frauen aus.

„Benedikt hat sich mit unfähigen Leuten umgeben“, meint Scaraffia

Am 11. Februar 2013 überraschte Ratzinger die ganze Welt, als er seinen Rücktritt ankündigte. Die Medien präsentierten Benedikts Entscheidung als ein Zeichen von Schwäche, Scaraffia und Guerriero sehen dagegen in dieser Geste ausgesprochenen Mut.

„Er hatte große theoretische Gaben, allerdings sehr wenig praktische“, meint Scaraffia. „Vor allem hat er seine Berater schlecht zusammengestellt und hat sich mit unfähigen Leuten umgeben. Seine Sekretäre hat er ungünstig ausgesucht und seine Mitarbeiter nutzten seine Blindheit aus.“ Skandale und Missverständnisse haben ihm dann den Rest gegeben. „Er lebte sehr hoch in den Wolken, während unten Sachen passierten, die er gar nicht mochte“, erklärt die Historikerin.

Ratzinger dachte nicht politisch korrekt

„Er sagte, was er dachte, und das, was er für richtig hielt. In unserer Gesellschaft wird jeder ausgegrenzt, der nicht politisch korrekt ist“, erklärt die frühere Herausgeberin des monatlichen Beihefts Frauen-Kirche-Welt, vom Osservatore Romano. „Natürlich ruft man eine gewaltige Reaktion hervor, wenn man so hoch sitzt. Mich können sie verbieten auf den Zeitungen zu schreiben, bei ihm war die Angelegenheit ein wenig komplizierter …“

Die restliche Zeit seines Lebens hat er dann im Kloster Mater Ecclesiae im Vatikan verbracht, wo er sich dem Beten und Studieren gewidmet hat. „Alle sagen immer noch, dass er ein Traditionalist war, aber er hat mit seinem Rücktritt die revolutionärste aller Taten begangen“, behauptet Scaraffia. „Auf diese Weise hat er dem Papst den Heiligenschein entzogen. Nach Joseph Ratzinger sollte man die Papstfigur in einem neuen Licht betrachten.“