Rom - Der kleinste Staat der Welt liegt, geschützt von hohen Mauern, mitten in der italienischen Hauptstadt. Seit jeher gedeihen in und um den Vatikan Verschwörungstheorien und Intrigen. Jetzt aber wird der Kirchenstaat von einem Skandal erschüttert, wie er in der neueren Geschichte seinesgleichen sucht. Schon seit Anfang des Jahres gelangen immer wieder streng vertrauliche Dokumente an die Öffentlichkeit und werden in den Medien ausgeschlachtet – darunter Briefe an den Papst, Interna über die Vatikanbank und Protokolle von vertraulichen Audienzen.
Eine zentrale Rolle spielt dabei der Enthüllungsjournalist Gianluigi Nuzzi. Erst kürzlich ist sein neuestes Buch unter dem Titel „Sua Santità“ (Seine Heiligkeit) erschienen, in dem er ihm zugespielte Dokumente veröffentlicht hat. In Italien ist es bereits ein Bestseller, der Vatikan droht Nuzzi mit einer Klage.
Von Vatileaks sprach der Sprecher des Papstes, Pater Federico Lombardi, anfangs noch leicht spöttisch. Doch die Affäre wurde schnell sehr ernst. Der Papst ordnete interne Ermittlungen an, eine Untersuchungskommission wurde eingesetzt, um die Maulwürfe zu enttarnen – im Italienischen heißen sie „corvi“, Raben. Die Nervosität wuchs von Monat zu Monat, bestand doch der Verdacht, dass die Raben im zweiten Stock des Apostolischen Palasts sitzen. Dort residiert das Kardinalstaatssekretariat, die Regierungszentrale. Ihr Chef ist Kardinal Tarcisio Bertone, 77, nach Papst Benedikt die Nummer 2 im Kirchenstaat, ein Mann, der vielen als zu mächtig und zu unfähig gilt.
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Vatileaks zieht immer weitere Kreise
Kurz vor Pfingsten gelangte erneut Ungeheuerliches nach draußen. Gerade hatte der Chef Vatikanbank, Ettore Gotti Tedeschi, sehr unsanft sein Amt verloren, da wurde bekannt, dass ein erster Verdächtiger in der Affäre Vatileaks verhaftet worden war. Ein Zufall? Am Samstag herrschte zumindest Gewissheit, wo die undichte Stelle zu suchen ist: den Privatgemächern des Papstes.
Festgenommen wurde Paolo Gabriele, ein Mann, der dort ein- und ausgeht und den Papst treu sorgend durch den Tag begleitet. Bisher wurde Anklage wegen „schweren Diebstahls“ gegen ihn erhoben. In seiner Wohnung waren tatsächlich hochvertrauliche Dokumente gefunden worden waren, die dort nichts zu suchen hatten. Möglicherweise wird die Anklage noch ausgeweitet. Schon so ging ein Aufschrei durch Rom. Der allseits geschätzte Gabriele soll der „corvo“ sein? Der Papst ist zutiefst erschüttert.
Insider aber halten es für ausgeschlossen, dass der Maggiordomo allein einen derartigen Verrat begangen haben kann, manchen gilt er nur als Bauernopfer. Schon mutmaßen italienische Medien, dass Kardinäle in die Intrige verwickelt sind. Papst-Sprecher Lombardi bestätigte am Montag, dass auch hochrangige Geistliche befragt würden. Angeblich hat Gabriele bereits Namen genannt, die Suche nach Komplizen läuft auf Hochtouren.
Wem nützt die Intrige?
Bisher wirft seine Verhaftung jedenfalls mehr Fragen als Antworten auf. Welcher Zusammenhang besteht zur Entlassung Gotti Tedeschis? Und warum wurde schon vor Monaten der Generalsekretär des Governatorats, Erzbischof Carlo Maria Vigano, der die Kassenführung des Vatikans untersuchen sollte, als Nuntius in die USA strafversetzt? Am schwersten aber wiegt die Frage des Cui bono. Wem nützt die Palastintrige? Gegen wen richtet sie sich? Tatsächlich gegen Bertone? Oder sollen bereits die Weichen gestellt werden für das nächste Konklave, in dem Benedikts Nachfolger gewählt werden muss? Die Zeitung La Repubblica veröffentlichte am Montag ein anonymes Interview mit einer Person, die den Verschwörern zumindest sehr nahe steht. Sie behauptete, dass mit den Indiskretionen dem Papst geholfen und Bertone geschadet werden solle. Am Ende sei es zu einem Kampf „Jeder gegen jeden“ geworden. Niemand wisse mehr, wer auf welcher Seite steht.