Verfassungsschutz-Affäre um Netzpolitik.org: Die Eskalation eines Konflikts

Wenn man wissen will, wer Harald Range ist, muss man im Munzinger-Archiv unter der Rubrik „Familie, Interessen, Hobbys“ nachschauen. Da steht auf der vierten Seite zu lesen, dass der Generalbundesanwalt verheiratet sei und zwei Kinder habe. Und dann steht da der schöne Satz: „Privat mag er Dampflokomotiven, Segelboote und die Ostsee.“ Wohlgemerkt: Nur privat. Im Dienst Dampflokomotiven zu mögen, würde sich der 67-Jährige demnach nie rausnehmen. Das für seine Seriosität bekannte biografische Archiv zitiert überdies die Frankfurter Allgemeine Zeitung mit dem Hinweis, Range sei „mit stillem Humor und breiter Bildung begabt“.

Im Berliner Regierungsviertel wird ähnlich über den Mann geredet, wie vom Munzinger-Archiv über ihn geschrieben wird. Er sei „sehr abwägend, sehr zurückhaltend, ja fast schon zögerlich“, sagt ein führender Unionspolitiker. Umso mehr habe es ihn gewundert, dass Range zuletzt so beherzt aufgetreten sei.

In SPD-Kreisen fallen die Charakterisierungen weniger diplomatisch aus. Er sei „ein bisschen speziell“, heißt es da, als ginge es um einen Nerd – einer, der „seine juristischen Checklisten abhakt“ und sich ansonsten von untergebenen Bundesanwälten treiben lasse.

Maaßen gilt als böser Bube

Deutschlands Chefankläger mit Dienstsitz Karlsruhe gilt weithin als einer, der die Toten Hosen im Zweifel für ein Kleidungsstück hält und lieber kuscht als vorprescht. Dass derselbe Mann am Dienstag mit Blick auf den ihm vorgesetzten Bundesjustizminister Heiko Maas, SPD, sagt, „auf Ermittlungen Einfluss zu nehmen, weil deren mögliches Ergebnis politisch nicht opportun erscheint, ist ein unerträglicher Eingriff in die Unabhängigkeit der Justiz“ – dies grenzt an Rebellion, nicht zuletzt an Rebellion gegen sich selbst. In jedem Fall bedeutet es die Eskalation eines Konflikts, den so niemand für möglich gehalten hatte.

Die Ereignisse, die sich längst zu einer satten Affäre ausgewachsen haben, beginnen am 25. März. Da erstattet der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, beim Berliner Landeskriminalamt Anzeige wegen Landesverrats. Er hatte sich über die Veröffentlichung von Dokumenten auf dem viel gelesenen Blog von Netzpolitik.org geärgert, in denen es um die Ausweitung der Internetüberwachung durch den Inlandsgeheimdienst ging. Bald darauf lässt er eine zweite Anzeige folgen. Darin werden auch die Namen der beiden Blogger genannt, um die es seit Bekanntwerden der Affäre am Donnerstag geht: Markus Beckedahl und Andre Meister.

Maaßen untermauert seine Anzeige mit einem Gutachten und spricht ein paar Wochen darauf bei einem Symposium des Bundesamtes im Beisein von Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) von strafbaren Handlungen. Spätestens da muss allen klar sein, dass er es ernst meint. Um das wiederum zu verstehen, muss man die jüngsten Traumata der deutschen Geheimdienste beachten.

Radikaler im öffentlichen Dienst

Nach Auffliegen des Nationalsozialistischen Untergrunds, NSU, am 4. November 2011 gelten die Mitarbeiter dieser Geheimdienste als Leute, die Verdächtige nicht orten können, auf dem rechten Auge blind sind und gerne auch mal Akten schreddern lassen, wenn sie Unangenehmes enthalten. Der NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages quält sie in stundenlangen und meist entblößenden Vernehmungen. Verfassungsschutzpräsident Heinz Fromm geht, Maaßen kommt – und damit ein Mann, den die Süddeutsche Zeitung soeben als Radikalen beschrieb, als Radikalen im öffentlichen Dienst.

Kaum ist der NSU-Ausschuss fertig, folgt der NSA-Untersuchungsausschuss. Denn 2013 beginnt der einstige NSA-Mitarbeiter Edward Snowden mit seinen Enthüllungen über Massenüberwachungen im Allgemeinen und von deutschen Spitzenpolitikern bis hinauf zu Kanzlerin Angela Merkel im Besonderen. Da der Bundesnachrichtendienst in all das mehr oder weniger verwickelt ist, folgt Pranger Nummer zwei. Maaßen, der stark in Freund-Feind-Kategorien denkt, hat jedenfalls Angst vor Indiskretionen aus dem eigenen Haus. Und sauer über die Untersuchung ist er außerdem. Dem BND-Präsidenten Gerhard Schindler sind solche Gefühlsregungen auch nicht fremd.

Verkappte Kriminelle

Die Geheimdienstler tun seit einiger Zeit einiges, um dem Eindruck entgegenzutreten, sie seien im Grunde verkappte Kriminelle. Regelmäßig und in kurzen Abständen werden Journalisten zu Hintergrundgesprächen eingeladen. Zum zweiten Mal bitten die Sicherheitsbehörden demnächst zu einem Herbstempfang. Doch am Image ändert das alles wenig, so lange Snowden oder die Enthüllungsplattform Wikileaks fröhlich Dokumente durchsickern lassen.

Am 13. Mai leitet der sichtlich beeindruckte Generalbundesanwalt als Konsequenz aus Maaßens Anzeige ein Verfahren wegen Landesverrats gegen Beckedahl und Meister ein. Am 27. Mai erfährt Maas davon – und will, wie er behauptet, Range umgehend und deutlich abgeraten haben. Als die Ermittlungen ruchbar werden, distanziert sich der Minister offiziell, erklärt den Vorwurf für unbegründet und das Delikt des Landesverrats für überholt. Bald werden Rücktrittsforderungen laut. Der SPD-Rechtsexperte und Anwalt Christian Flisek findet, Range – seit 1967 FDP-Mitglied – sei „nur noch peinlich“. Das sehen andere genau so. Vor allem, weil er im Kontext des NSA-Skandals keinen Finger rührt und sich mit windigen Erklärungen stets aufs Neue herausredet.

Allein auf weiter Flur

Am Montag stellen sich das Kanzleramt und das Bundesinnenministerium ebenfalls gegen Range. Vize-Regierungssprecherin Christiane Wirtz nennt die Pressefreiheit im Namen Merkels ein hohes Gut. Heiko Maas und Thomas de Maizière sind sowieso Kumpel. Zieht man schließlich in Betracht, dass am Sonnabend über 1000 Menschen für Beckedahl und Meister demonstrieren und es die versammelte deutsche Medienwelt nachvollziehbarerweise nicht so sehr mag, wenn gegen Medienmenschen wegen Landesverrats ermittelt wird, darf man sagen: Der ohnehin als unsicher geltende Range ist fast allein auf weiter Flur. Auch der stellvertretende FDP-Vorsitzende Wolfgang Kubicki tut, was er am besten kann: anderen in den Rücken fallen.

Lediglich Teile der Union sowie Maaßen – der Mann, der Range alles eingebrockt hat – halten zu ihm. Als der Generalbundesanwalt am Dienstag um 9.30 Uhr zu einer Pressekonferenz einlädt, sind sich deshalb viele Beobachter einigermaßen sicher: Entweder er stellt die Ermittlungen ein. Oder er tritt zurück.

Umso mehr verblüfft, was tatsächlich geschieht. Denn nun geht der Dampflokomotiven-Liebhaber auf den Minister los.

Harald Range liest eine Erklärung von einer DIN-A4-Seite ab. Darin kommt er auf ein externes Gutachten zu sprechen, das er am 19. Juni in Sachen Landesverrat in Auftrag gegeben hatte. Der Gutachter habe ihm zwar am Montag mitgeteilt, dass er den Vorwurf des Verrats von Staatsgeheimnissen mit Blick auf Beckedahl und Meister als gerechtfertigt ansehe. Das Ministerium habe ihm indes, erklärt Range, unmittelbar danach „die Weisung erteilt, das Gutachten sofort zu stoppen und den Gutachtenauftrag zurückzuziehen“. Dem habe er Folge geleistet.

Fahrig den Kopf aufs Blatt Papier senkend

Anschließend gelangt der Generalbundesanwalt zu seinen Schlussfolgerungen. Mal um Mal ein wenig fahrig den Kopf auf das Blatt Papier senkend, das er in Händen hält, sagt Range, die Presse- und Meinungsfreiheit sei ein hohes Gut, gelte jedoch auch im Internet nicht schrankenlos. Journalisten müssten Gesetz beachten. Und über deren Einhaltung wache die Rechtsprechung. Ihre Unabhängigkeit sei daher nicht minder zentral wie die Presse- und die Meinungsfreiheit.

Gegen Ende sagt Harald Range den bereits erwähnten entscheidenden Satz: „Auf Ermittlungen Einfluss zu nehmen, weil deren mögliches Ergebnis politisch nicht opportun erscheint, ist ein unerträglicher Eingriff in die Unabhängigkeit der Justiz.“ Das ist eine Attacke auf Heiko Maas, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt und nach Konsequenzen ruft. Der Grüne Jürgen Trittin kommentiert süffisant auf Twitter: „Das hätte der GBA auch kürzer sagen können: Bitte schmeißt mich raus!“

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Ab kurz nach 9.30 Uhr tagt der Krisenstab im Bundesjustizministerium. „Die sitzen noch drüber und grübeln“, verlautet gegen Mittag. Der Minister ist eigentlich im Urlaub und muss mit Leuten Kontakt aufnehmen, die auch eigentlich im Urlaub sind. Derweil warnt der Vorsitzende des NSA-Ausschusses, Patrick Sensburg von der CDU, ausdrücklich davor, Range vor die Tür zu setzen. „Es wäre kein guter Zug, ihn jetzt zu entlassen“, sagt er. „Man darf nicht jede Institution demontieren.“ Der Christdemokrat fährt fort, der Minister sei von Anfang an in die Ermittlungen eingebunden gewesen. „Ich wundere mich, dass dann so harte Kritik kommt.“

Zögern im Ministerium

Nach knapp neun Stunden hat das Warten ein Ende. Maas tritt in seinem Haus vor die Presse. Er sagt, darauf, den Auftrag für das externe Gutachten zurückzuziehen, habe er sich gemeinsam mit Range bereits am Freitag verständigt. Insofern seien dessen jüngste Erklärungen nicht nachvollziehbar. Weniger verklausuliert bedeutet das: Der Generalbundesanwalt hat nach Ansicht des Bundesjustizministers gelogen. Die Konsequenz ist klar: Er versetzt den Mann in den Ruhestand, der insofern gar kein vorzeitiger ist, als der das Rentenalter mit seinen 67 Lebensjahren längst erreicht hat.

Einen Nachfolger zieht Maas gleich mit aus dem Hut. Es ist der Münchner Generalstaatsanwalt Peter Frank. Insofern hat der athletische Saarländer zwar eine Weile gebraucht. Dafür ist der Rausschmiss recht sauber gelungen.

Harald Range, der seinen Bart wohl schon in Erwartung des Ruhestands sprießen ließ, soll dem Vernehmen nach eine Pension von zirka 8000 Euro monatlich bekommen. Davon kann er sich mit Dampflokomotiven und Segelbooten ein schönes Leben machen. Ein Album mit den Zeitungsartikeln über einen Staatsdiener mit Ärmelschoner-Image, der sich kurz vor der Rente überraschend zur Revolte entschloss, würde als Abschiedsgeschenk gut dazu passen.