Verfolgung von NS-Verbrechern: Staatsanwalt: „Viele Zeugen sind verstorben“

Der wohl letzte noch in den USA lebende mutmaßliche KZ-Aufseher Jakiw Palij ist am Dienstag aus den USA nach Deutschland abgeschoben worden. Palij soll im Konzentrationslager Trawniki im heutigen Polen tätig gewesen sein. Im Interview erklärt Jens Rommel, Chef der Ludwigsburger Nazijäger, wie die Verfolgung von ehemaligen NS-Schergen heute funktioniert.

Herr Rommel, war Ihre Stelle an den Ermittlungen gegen Palij beteiligt?

In der Tat haben wir Ermittlungen in diesem Fall vorbereitet, auch mit Unterstützung von US-Behörden. Die Erkenntnisse, die wir zusammengetragen haben, haben wir an die zuständige Staatsanwaltschaft in Würzburg weitergeleitet. Das Verfahren wegen des Verdachts der Beihilfe zum Mord hat die Staatsanwaltschaft allerdings im Juli 2016 eingestellt.

Wie stehen die Chancen, dass die Ermittlungen jetzt wieder aufgenommen werden?

Durch die Überstellung des Betroffenen nach Deutschland hat sich nichts geändert. Stand heute ist, dass keine Ermittlungen gegen ihn laufen. Es liegt insbesondere auch kein Haftbefehl vor. Dazu muss man wissen, dass die Anforderungen für einen Mordprozess hier viel höher sind als für die Ausbürgerung aus den USA. In Deutschland muss bewiesen werden, dass jemand eigenhändig einen Mord begangen oder durch sein Verhalten einen Mord unterstützt hat.

Sie leiten die „Ludwigsburger Nazijäger“, die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung von NS-Verbrechen. Warum gibt es diese Einrichtung?

Staatsanwaltschaften können Ermittlungen natürlich selbst führen, sie haben alle Befugnisse aus der Strafprozessordnung. Aber es hatte sich nach dem Krieg gezeigt, dass gerade für NS-Verbrechen außerhalb des Bundesgebietes – im besetzten Polen oder nach dem Überfall auf die Sowjetunion – oft kein Staatsanwalt zuständig war. Um dem abzuhelfen, wurde 1958 diese Stelle gegründet, die unabhängig von Tatort oder Wohnort der Verdächtigen ermittelt.

Palij war der wohl letzte noch in den USA lebende Ex-KZ-Wachmann. Wie gehen Sie solchen Fällen von Ludwigsburg aus nach?

Früher sind wir vor allem Hinweisen nachgegangen. Weil aber inzwischen viele Zeugen verstorben sind, treiben wir die Ermittlungen heute stärker selbst voran. Wir sind acht Ermittler und versuchen, Tatkomplexe zu untersuchen, bei denen wir heute noch Ermittlungschancen sehen. Zuerst beschreiben wir das Verbrechen als solches: Wie waren die Verhältnisse im Lager? Gab es eine Gaskammer? Erschießungen? Dann untersuchen wir, wer als Personal eingesetzt gewesen sein könnte. Wir nutzen Archive, arbeiten mit den Gedenkstätten zusammen. Im dritten Schritt prüfen wir, wer von diesen Personen noch lebt. Von wem kennen wir die Anschrift? Haben wir Erfolg, geben wir unsere Ergebnisse an die zuständige Staatsanwaltschaft weiter.

Und haben Sie oft Erfolg?

Pro Jahr leiten wir etwa 30 Fälle an die Staatsanwaltschaften weiter. Derzeit werden von Gerichten in Münster, Mannheim und Frankfurt/Main Anklagen gegen vier Männer geprüft – mutmaßliche Wachleute in den Lagern Auschwitz, Majdanek und Stutthof.

Sind Sie zuversichtlich, dass in diesen Fällen Verfahren eröffnet werden?

Schwer zu sagen. Neben ausreichenden Beweisen braucht es weitere Voraussetzungen: Der Beschuldigte muss nach unserem rechtsstaatlichen Verständnis verhandlungsfähig, das heißt körperlich und geistig in der Lage sein, ein Verfahren durchzustehen. Und bei der Gruppe, mit der wir es zu tun haben – über 90-jährige Menschen – ist das oft nicht mehr der Fall. Ein Beispiel: Von den 30 Fällen, die wir zu Auschwitz abgegeben haben, kam es nur bei fünf zur Verhandlung. Verurteilt wurden nur Oskar Gröning und Reinhold Hanning. Alle anderen waren nicht verhandlungsfähig oder in der Zwischenzeit verstorben.

In Deutschland ist mit der AfD eine Stimme laut geworden, die eine „Abkehr vom Schuldkult“ fordert. Warum ist Ihre Arbeit heute noch wichtig?

Forderungen einzelner Parteien kann ich nicht kommentieren. Ich kann aber sagen: Der damalige deutsche Staat hat ungeheure Verbrechen organisiert. Ich sehe die deutsche Justiz auch heute noch in der Pflicht, diese Taten aufzuarbeiten. Zwar schwinden die Chancen auf Gerichtsverfahren durch das Alter der Beschuldigten von Jahr zu Jahr rapide. Ich denke aber, dass wir hier in Ludwigsburg noch einige Jahre sinnvolle Aufklärung vorbereiten können. Und das Wissen über die NS-Diktatur, das auch durch juristische Aufarbeitung ans Licht befördert wird – das wird bleiben.