Völkermord an den Herero: Die Nachkommen der Verfolgten vergessen nicht
Oganjira - Chief Vipuira Kapuuo kennt den Weg im Schlaf. Zielsicher steuert er seinen Geländewagen zwischen den Büschen hindurch, die alle gleich aussehen. Nichts, woran der Distrikt-Chef sich orientieren könnte. Trotzdem taucht direkt vor ihm plötzlich eine liebevoll gepflegte Grabstätte mitten in der Wildnis auf: zwei übermannsgroße Aloen, vier Grabsteine, ein Kreuz. „Hier ruht in Gott: Leutnant d. R. Dr. jur. Burkhart Freiherr von Erffa-Wernburg“, steht auf einem der Steine: „Christus ist mein Leben. Das Sterben ist mein Gewinn.“
Kapuuo senkt den Kopf und schließt kurz die Augen. Er komme gerne mit einem Deutschen hierher, sagt er dann: „So können wir zeigen, dass wir keinen Groll gegen euch hegen.“ Würden die Herero die Deutschen hassen, läge das Grabmal längst in Trümmern, gibt er zu bedenken. „Wir sind nicht zornig. Aber wir vergessen auch nicht.“
Nicht vergessen wird der Distrikt-Chef, dass die Rinderherden der Herero hier einst ungehindert durch die Gegend zogen, während die Enkel der Nomaden heute in Reservate gepfercht sind – von Tausenden von Hektar großen Farmen umgeben, die noch immer Besitzern mit deutschen Namen gehören. Auch wird sich Vipuira Kapuuo stets daran erinnern, dass im Gefecht von Oganjira außer Freiherr von Erffa-Wernburg sein eigener Großvater starb. Will er dessen Grab besuchen, muss er die deutschen Farmbesitzer vorher um Erlaubnis fragen. Und immer wieder wird er daran denken, dass die Deutschen seinem Onkel damals im Konzentrationslager von Swakopmund den Kopf abgeschlagen haben. „Sie nahmen seinen Schädel nach Deutschland mit. Was sie damit gemacht haben, wissen wir nicht.“
Dem Gefecht von Oganjira fielen am 9. April 1904 vier deutsche Soldaten und 83 Herero zum Opfer. „Für uns ist es, als ob das gestern gewesen wäre“, sagt der 69-jährige Kapuuo. „Wenn etwas nicht wieder gut gemacht wird, dann verschwindet es auch nicht.“
Späte Entschuldigung
Jedes Herero-Kind weiß, was sich vor mehr als 110 Jahren im Südwesten Afrikas zugetragen hat. Nachdem immer mehr deutsche Einwanderer aufgetaucht waren und das weite, aber trockene Land schließlich zu ihrer Kolonie erklärt hatten, blies der Herero-König Samuel Maharero zum Aufstand. Anfang 1904 ermordeten seine Kämpfer 123 Siedler – das Kaiserreich erklärte daraufhin den Krieg. Zur Verstärkung der zunächst eher kümmerlichen Schutztruppe wurden aus Deutschland immer mehr Soldaten mitsamt Maschinengewehren und Kanonen herbeigeschafft. Und nach ersten Gefechten, unter anderem hier in Oganjira, kam es im August desselben Jahres am Waterberg zur Entscheidungsschlacht.
Zahl der Opfer ungewiss
Für die Herero führte sie in eine Katastrophe. Hunderte starben im Gefecht, Tausende verdursteten auf der Flucht durch die Halbwüste Omaheke. Diejenigen, die die deutschen Besatzer lebend aufgegriffen hatten, steckten sie in Arbeits- und Konzentrationslager, wo viele von ihnen elend zugrunde gingen.
Die Details des Konflikts sind nach wie vor umstritten. Die Nachfahren der Siedler sprechen von Ländereien, die ihre Ahnen käuflich erworben hätten, von hinterlistigen „Eingeborenen“ und deren selbstmörderischem Aufstand. Dagegen berichten die Herero von deutschen Gräueltaten, von Massenhinrichtungen, Auspeitschungen und auf Bajonetten aufgespießten Kindern. Selbst die Zahl der Opfer ist ungewiss: Während die Herero von 75.000 getöteten Ahnen und 15.000 Überlebenden ihres Volkes ausgehen, will die Gegenseite höchstens von 35.000 einst hier lebenden Einheimischen wissen. Dass ein Großteil des Nomadenvolkes ausradiert wurde, steht jedoch fest.
„Selbstverständlich handelt es sich um einen Völkermord“, sagt Zed Ngavirue. Der elegant gekleidete 84-jährige Herr mit schwarz gefärbten Haaren sitzt in seinem Büro im Windhoeker Außenministerium: ein Diplomat wie aus dem Bilderbuch. Der promovierte Historiker, Professor und Spross der adligen Kambasembi-Familie wurde im vergangenen Jahr aus dem Ruhestand geholt, um als Vertreter Windhoeks mit Berlin zu verhandeln.
Erst 1990 wurde das Massaker zum Thema gemacht
Lange hat es gedauert. Erst 1990, mit Namibias Unabhängigkeit von Südafrika, wurden die Gewaltausbrüche zum Thema gemacht. Repräsentanten des stark dezimierten Volkes drängten auf Verurteilung der widerrechtlichen Landnahme und auf Wiedergutmachung. Dabei beriefen sie sich auf neuere Studien, die – wie diejenige des DDR-Historikers Horst Drechsler – den Krieg der Deutschen als Genozid bezeichneten. Schließlich sei die Absicht des Schutztruppenkommandeurs Generalleutnant Lothar von Trotha ausdrücklich „die Vernichtung“ des Herero-Volks gewesen.
Lange gab es aus Deutschland keine Reaktionen, man mied das Thema. Erst die damalige Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul entschuldigte sich anlässlich des 100. Jahrestages der Schlacht am Waterberg für die „Gräueltaten, die heute als Völkermord bezeichnet würden“. Doch erst im Juli 2016 hat die deutsche Regierung das Massaker offiziell als Völkermord eingestuft.