Wahl-Entscheidung am Sonntag: Die Macht der Verzweifelten aus dem Osten
Nein, Regina Paetzold ist nicht wütend, überhaupt nicht. „Ich mag sie ganz gern“, sagt die 69-Jährige aus Wolgast. „Und ihre Art finde ich super.“ Sie meint die Kanzlerin, die gerade in der Hufeland-Halle gesprochen hat.
Draußen vor der Halle grölen NPD-Schlägertypen. Frau Paetzold erklärt, warum im Osten viele ihre Merkel-Bewunderung nicht teilen. „Nach der Einheit ist vieles ein bisschen schiefgelaufen“, sagt sie. „Viele Firmen sind plattgemacht worden. Und dann wurden die ganzen alten Sachen hierher gebracht zum Verkauf.“ Ähnlich schlecht sei es mit den Arbeitsplätzen gewesen, sagt sie. Viele Ostdeutsche hätten „falsche Hoffnungen gehabt, weil Merkel nun Ostdeutsche ist und sie dachten, dass Merkel mehr für sie eintritt“.
Verhältnisse angleichen
Ein paar Meter weiter steht Werner Spiegelberg. Nein, gegrölt hat auch er nicht, als Angela Merkel redete. Aber Erklärungen für den Unmut – die hat er durchaus. „Der Kanzler damals hat gesagt: Es gibt eine blühende Landschaft“, sagt der 76-Jährige. Der Kanzler – damit meint er Helmut Kohl. „Stattdessen ist die Arbeitslosigkeit zuerst gekommen – und die Armut. Man hätte die Verhältnisse angleichen müssen, nicht den Westen übernehmen. Das brauchen wir nicht.“
Die Fehler seien bis heute nicht eingestanden worden und auch nicht korrigierbar. Im Gegenteil, in Wolgast etwa seien nach den Industriebetrieben das Kreisgericht, das Arbeitsgericht, das Finanzamt und die Krankenkassen geschlossen worden. Und „jetzt steht das Krankenhaus auf der Kippe“. Werner Spiegelberg sagt: „Ich habe zwei Staaten erlebt. Ich bin im ersten nicht schlecht gefahren. Und gut fahre ich jetzt auch nicht.“ Für seine Wohnung etwa zahle er dreimal mehr als zu DDR-Zeiten. Dabei sei die Wohnung kleiner.
Weniger Fisch, weniger Fleisch
Im Westen verstehen das viele nicht. Im Westen denkt die Mehrheit der Menschen, über ein Vierteljahrhundert nach der Einheit müsse es doch mal gut sein mit diesem Ost-West-Ding. Tatsächlich könnte es aber genau andersherum sein. „Die Lage stagniert seit über zehn Jahren“, sagt der Görlitzer Soziologe Raj Kollmorgen. „Und erst jetzt zeigen sich die Folgen der Abwanderungswellen mit aller Härte – namentlich in den Klein- und Mittelstädten.“
Das Ost-West-Ding hat sich also nicht erledigt. Womöglich kommt es nun erst so richtig auf den Tisch. Und noch heikler als die sicht- und vor allem hörbare Wut ist das, was in ihrem Schatten gewachsen ist: die verzweifelte Entschlossenheit, die am Sonntag in den Kreuzen auf den Wahlzetteln ihren Ausdruck finden wird.
Zunächst einmal – das gehört an den Anfang – haben die deutsch-deutschen Probleme eine europäische Dimension. Das hat man hören können, als Jean-Claude Juncker in der vorigen Woche im Europäischen Parlament eine Grundsatzrede hielt. Es sei nicht hinnehmbar, dass in die östliche Hälfte der Europäischen Union Lebensmittel schlechterer Qualität geliefert würden, sagte der Präsident der EU-Kommission. Weniger Fisch in Fischgerichten, weniger Fleisch in Fleischgerichten und weniger Kakao in der Schokolade – das hätten die Slowaken, die Ungarn oder die Tschechen nicht verdient.
"Deutsche zweiter Klasse"
In Brüssel lachen angeblich viele über diesen mutmaßlichen Missstand. Doch er offenbart, dass sich die Osteuropäer als Europäer zweiter Klasse fühlen – so wie sich zumindest die älteren Ostdeutschen als Deutsche zweiter Klasse fühlen. Überhaupt fällt auf, dass einmal mehr die Lebensmittel im elementaren Sinne eine Rolle spielen. Die Westdeutschen waren es in den Neunzigerjahren, die darüber lachten, dass Hähnchen im Osten „Broiler“ hießen. Und es war der westdeutsche Politiker Otto Schily, der nach der letzten Volkskammerwahl 1990 eine Banane in die Kamera hielt, um die Ostdeutschen als dümmlich und konsumorientiert bloßzustellen.
Wenn sich politische Gräben zwischen Ost und West auftun, wie es nun wieder im Vorfeld der Bundestagswahl geschehen ist, dann sind es also nicht allein Gräben zwischen den Deutschen in Ost und West, sondern Gräben zwischen den Europäern diesseits und jenseits des einst Eisernen Vorhangs. Sie prägen sich bei uns nur in besonderer Weise aus, weil wir Ost- und Westeuropa in einem Land haben. Und sie haben ihren Grund in Realitäten und ihrer Leugnung.
Ängste und Wut
Da ist zunächst die Wende, die nicht bewältigte. „Viele Menschen, insbesondere der ,Erlebensgenerationen‘ der DDR, haben den tiefen Bruch 1989/90 und in den Folgejahren bis heute nicht verkraftet“, sagt der Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, Thomas Krüger. „Es sind neue Risse in der Gesellschaft entstanden. Die Erfahrungen von Gemeinschaft werden immer weniger gemacht, obwohl sich die Menschen danach sehnen. Das löst Ängste und Wut aus.“
Die deutsche Vereinigung werde ja heute „zu Recht als große Erfolgsgeschichte erzählt“, fährt Thomas Krüger, der Ostdeutsche, fort. „Aber viele sind im neoliberalen Transformationsprozess aus der Bahn geraten. Und es waren meist jene, die schon in der DDR nicht zu den Oberen gehörten. Die Kanzlerin als Repräsentantin des politischen Systems, als ‚eine, die es geschafft hat‘, wirkt in einer solchen Gemengelage geradezu als Negativfolie.“
Statistik und Leben sind zwei Paar Schuhe
Dass es mit der Einheit insgesamt gut gegangen ist, bedeutet nicht, dass es für alle gut gegangen ist. Vielmehr scheint es so, dass im schönen Schein des großen Ganzen die Belange vieler Ostdeutscher, die nach der Wende in einen Strudel gerieten, übersehen werden – ähnlich wie in der Freude über die gute Wirtschaftslage in Deutschland übersehen wird, dass über 20 Prozent der Kinder von Armut bedroht sind. Die Statistik und das Leben sind eben zwei Paar Schuhe.
Die Erinnerung an die Verteilungskämpfe nach der Wende ist angesichts des Zuzugs von Flüchtlingen wachgerufen worden. Für die Erkenntnis, dass die DDR selbst seit 1949 faktisch eine Flüchtlingsgesellschaft ist, ist kein Raum. Die Schriftstellerin Monika Maron nannte den Vergleich „unlauter“ – weil Deutsche nach Deutschland geflohen seien. Es ist der Status quo, der vielen Ostdeutschen als nicht akzeptabel erscheint. Sicher, die Statistik sagt: Der Osten holt auf. Aber das geschieht nur millimeterweise. Nach wie vor beträgt die ostdeutsche Wirtschaftsleistung lediglich rund 70 Prozent der westdeutschen Wirtschaftsleistung, weil es an Großunternehmen mangelt.
Schwindende Hoffnungen
Bei Löhnen und Gehältern liegen die Ostdeutschen über 15 Prozentpunkte zurück. In den Eliten sind sie unterrepräsentiert. Und die Bundesregierung hielt das Versprechen, die Renten noch in dieser Legislaturperiode anzugleichen, nicht. Zwar schmilzt die Differenz Jahr um Jahr. Dennoch wird sie in den neuen Ländern nach wie vor wahrgenommen – als Ausdruck mangelnder Wertschätzung. Maßgeblich ist dabei nicht, wie groß die Differenz ist, wesentlich ist die Tatsache, dass sie überhaupt besteht. Der Soziologe Kollmorgen spricht von „den schwindenden Hoffnungen der älteren Generationen der Ostdeutschen. Irgendwie kommen sie nie auf den grünen Zweig des materiellen Westniveaus und der sozialen Anerkennung durch die Westdeutschen.“ Und das Materielle, sprich das Geld, ist im Kapitalismus bekanntlich die Leitwährung für Respekt.
Das soziale Gefälle verbindet sich mit einem Stadt-Land-Gefälle. Anders als die prosperierenden ostdeutschen Ballungszentren sind die Provinzen Auswanderungsprovinzen. Dies gilt für 85 Prozent des Territoriums der früheren DDR. Hier verbinden sich die Traumata der Alten mit dem Erbe des auf soziale und ethnische Homogenität geeichten Staatssozialismus, an dessen Elle seit 1989 die neuen Verhältnisse gemessen werden. Heraus kommt diese seltsame Melange aus rechtem Denken und Ostalgie, die sich vor allem in der Nähe zu Russland ausdrückt und die nicht in das alte westdeutsche Koordinatensystem passt.
Angela Merkel vergisst bei ihren ostdeutschen Reden übrigens nie, das Thema anzusprechen. Sie kennt die Erwartungen. Und sie hält in unterschiedlichen Landesteilen unterschiedliche Reden. Unbestreitbar ist: So wie die britische Provinz den Ausschlag gab für das Brexit-Votum und wie der amerikanische Rust Belt den Ausschlag gab für die Wahl Donald Trumps, so werden die Ost-Provinzen Heimstatt der AfD. Wer die ländlichen Räume ökonomisch verliert, verliert sie sozial und anschließend politisch.
Die Ost-Debatten sind nicht neu
Weil der Sog von rechts so stark ist, gibt es eine letzte Realität, die zu leugnen Mode geworden ist: der Rechtstrend an sich. In Bautzen verhandelt ein stellvertretender CDU-Landrat unverhohlen mit einem NPD-Funktionär über Flüchtlingsfragen. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) besuchte kürzlich die Gedenkstätte Hohenschönhausen, um zu betonen, dass man den Kampf gegen den Linksextremismus verstärken müsse. Das mag angesichts der Randale beim G20-Gipfel in Hamburg nachvollziehbar sein. Gleichwohl ist die Militanz von Links- und Rechtsextremisten im Augenblick nicht vergleichbar. So saß die Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau beim jüngsten Parteitag der Linken in Hannover auf der Terrasse ihres Hotels. Währenddessen war die Politikerin , die sich im NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages engagiert, von vier (!) BKA-Beamten umgeben. Es war ein erschütterndes Bild.
Die Rechtsdrift ist nicht zuletzt ein Phänomen der Jungen. So würden nach einer aktuellen Erhebung 15,4 Prozent der unter 18-Jährigen in Sachsen die AfD wählen. Das ist bundesweit das zweithöchste Ergebnis nach Thüringen, wo es 15,7 Prozent wären. Im Erzgebirge würde die AfD, wenn es nach den unter 18-Jährigen ginge, sogar stärkste Kraft – und die NPD käme über die Fünf-Prozent-Hürde. Bundesweit würden bloß 6,7 Prozent dieser Altersgruppe für die AfD votieren.
Die Ost-Debatten von heute sind nicht neu. Bayerns CSU-Ministerpräsident Edmund Stoiber sagte im Jahr 2005, er akzeptiere es nicht, dass letzten Endes erneut der Osten bestimmt, wer in Deutschland Kanzler wird. „Es darf nicht sein, dass letztlich die Frustrierten über das Schicksal Deutschlands bestimmen.“ Die Ostdeutschen werden dem Rest der Republik am Sonntag wieder zeigen, dass mit ihnen zu rechnen ist.