Wahl in Russland: "Wir haben gar kein Parlament"

Moskau - Am Ende kam auch Wladimir Putin auf einen kurzen Abschiedsgruß. Es war der letzte Sitzungstag der Duma, und gerade erst hatte ihr Vorsitzender Boris Gryslow die titanische Arbeit der Abgeordneten gelobt. 1 581 Gesetze hätten sie in den vier Jahren verabschiedet – ein nicht zu übertreffender Rekord! Da betrat der Regierungschef und Führer der größten Partei den Saal, um dem Parlament zu danken. Sein Dank gelte allen, sagte Putin großmütig – „auch jenen, die es jetzt nicht für möglich erachtet haben aufzustehen“.

Sprach vom Staat als einem Schiff, sprach von kommenden Stürmen und von der Opposition, die dieses Schiff nicht zum Kentern bringen dürfe. In der Krise, so Putin, hätten alle Parteiinteressen zurückzustehen! Es war ein seltsamer Auftritt. Am Sonntag wird in Russland ein neues Parlament gewählt – warum sollten ausgerechnet im Wahlkampf Partei-Interessen zurückstehen? Und warum hatte der Regierungschef erwartet, alle Deputierten müssten bei seinem Besuch aufspringen?

"Wir haben gar kein Parlament"

Aber es ist in Russland vieles nicht so, wie es heißt. Der Premier ist in Wahrheit kein Premier, sondern mehr. Die Wahlen sind keine Wahlen, sondern eine Mischung aus Zwang, Fälschung und echtem Bürgervotum. Und das Parlament ist in Wahrheit – ja, was eigentlich? Welche Rolle spielt es?

„Wir haben gar kein Parlament“, sagt Gennadi Gudkow knapp. Er ist ein großer Mann in einem kleinen Abgeordnetenbüro, auf dem Fensterbrett steht eine Napoleon-Statue. Von oben pustet kalt die Klimaanlage und kämpft gegen die Heizung an. Gudkow ist Vize-Vorsitzender des Komitees für Sicherheit, Mitglied der Oppositionsfraktion „Gerechtes Russland“ und einer der wenigen Stars dieses Parlaments. Es gibt nicht mehr viele hier, die öffentlich reden können und wollen. Die allermeisten sind stromlinienförmige Abgeordneten der Kreml-Partei „Einiges Russland“, die 315 von 450 Sitzen hat. „Es wird Ihre Leser sicher schockieren, wenn ich Ihnen verrate, dass unser Parlament nicht mal Einfluss auf den Haushalt hat“, sagt Gudkow.

Im Vorjahr habe man gerade mal 0,2 Prozent des Etat-Umfangs noch ändern können. Aber ebenso wenig wie den Haushalt kontrolliere das Parlament die tatsächlichen Staatsausgaben, sagt Gudkow. Ein Fünftel von denen tauche nämlich gar nicht im Etat auf. Voriges Jahr hat Gudkow ein Gesetzesprojekt eingebracht zur Parlamentarischen Kontrolle, damit die Duma besseren Einblick in das Regierungshandeln bekommt. Es ist noch nicht mal diskutiert worden. „Die ganze Exekutive ist dagegen, dabei haben die eine Mehrheit von 70 Prozent im Parlament.“ Kein Herrscher des Absolutismus, so Gudkow, habe von solchen Vollmachten auch nur träumen können, wie sie der Kreml heute hat.

Die Ohmacht des Parlaments, findet er, hat ihren Ursprung lange vor Putins Amtszeit. 1993 hatte Präsident Boris Jelzin das erste russische Parlament mit Panzern auseinandergejagt. Auf den Trümmern des Obersten Sowjet entstand die Duma. Die neue Verfassung machte den direktgewählten Präsidenten zum „Garanten der Verfassung“, der quasi über allen Gewalten stand. „Die Duma hatte schon damals keine reale Macht, aber wenigstens hatte sie großen Einfluss in moralisch-pychologischer Hinsicht“, sagt Gudkow.

Millionäre dominieren die Duma

Wladimir Ryschkow ist anderer Meinung. Er kennt die Duma, seit es sie gibt. Viermal haben sie ihn direkt gewählt aus dem sibirischen Altai-Gebiet, er war mit 33 Jahren Vizepräsident des Parlaments und das Gesicht der Liberalen. „Das war hier ein ganz anderes Land mit einem anderen Parlament“, sagt er. Die Duma der Neunziger hätte fast ein Impeachment des Präsidenten zuwege gebracht, sie verweigerte dem Kreml die Ernennung eines Premiers und zwang ihm einen anderen auf, sie schichtete munter Haushaltsgelder um. Die Mehrheiten waren knapp, und jedes dritte Gesetz, das durchkam, wurde noch vom Oberhaus, dem Föderationsrat, angefochten. All das ist heute undenkbar, sagt Ryschkow. Heute spiele die Opposition im Parlament dieselbe Rolle wie die Blockparteien in der DDR-Volkskammer, sie stimme nach Anweisung aus dem Kreml und könne Putin gar nicht offen kritisieren.

Die Entmachtung des Parlaments geschah Ryschkow zufolge 2004. Damals wurde als nach dem Terrorakt von Beslan das Konzept der „Machtvertikale“ durchgesetzt, und dazu gehörte die Abschaffung der Direktmandate, wirksam seit den Duma-Wahlen 2007. Jeder Parlamentarier muss nun durch das Nadelöhr der Parteilisten, die vom Kreml kontrolliert werden. Seither ist die Verbindung zum Volk und zu den Regionen abgerissen, sagt Ryschkow. Und seither sitzt auch er nicht mehr in der Duma, sondern in einem Kellerbüro in der Innenstadt, wo er Aufrufe zum Wahlboykott verfasst – eines der vielen politischen Talente, auf die Putins Russland meint, verzichten zu können.

Kaum gute Redner

Die fehlen nun in der Duma. Gute Redner gibt es kaum mehr, bloß noch die Dinosaurier von der Opposition – den Kommunistenführer Gennadi Sjuganow und den Nationalisten-Clown Wladimir Schirinowski. Neue Politiker haben sich nicht profilieren können. Früher gab es da Hunderte wie mich, sagt Ryschkow, heute sind die Hälfte farblose Geschäftsleute. Für sie ist der Abgeordneten-Ausweis bloß die Eintrittskarte in die Welt der eigentlich Mächtigen – der Exekutive. Dafür müssen sie einige Millionen Dollar an die jeweilige Partei zahlen. Ryschkow schätzt die Zahl der Dollarmillionäre in der Duma auf bis zu 150. Es genügt ein Blick in die Forbes-Liste, um sogar Dollar-Milliardäre zu finden. Außerdem sitzen in der Duma jetzt Sportler und andere Stars, die das Ansehen der Kreml-Partei heben sollen – von der Sportgymnastin Alina Kabajewa bis zum Sänger der Pop-Gruppe Ljube.

Ein Geschäftsmann ist eigentlich auch Gudkow, ihm gehört eine der größten Sicherheitsfirmen Russlands. Außerdem ist er FSB-Offizier der Reserve. Und dennoch ist er zu einer der lautesten Stimmen gegen die Führung geworden. Er ist ein politischer Zwitter, genau wie seine Partei: Die wurde 2006 vom Kreml gegründet, um links neben der konservativen Partei „Einiges Russland“ ein zweites Standbein zu schaffen. Aber dann übernahm Wladimir Putin den Vorsitz von „Einiges Russland“, und alles, was Ehrgeiz hatte, rannte ebenfalls dorthin. Seither dümpelt „Gerechtes Russland“ an der Sieben-Prozent-Hürde und wird immer aufmüpfiger.

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