Nachzählung bei der Berlin-Wahl: Patt oder wat?

Im Bezirk Lichtenberg werden Stimmen nachgezählt, fast stündlich ändern sich die Zwischenergebnisse. Das ist völlig normal. Doch was ist bei Wahlen in Berlin schon normal?

Wahlhelfer sichten im City Cube nach der wiederholten Wahl die Stimmzettel der Briefwähler. 
Wahlhelfer sichten im City Cube nach der wiederholten Wahl die Stimmzettel der Briefwähler. Pauls Zinken/dpa

Die Berliner Wiederholungswahl ist nach allem, was man weiß, vergleichsweise unfallfrei verlaufen. Oder wie es Berlins Landeswahlleiter Stephan Bröchler als Ziel ausgegeben hat: „reibungsarm“. Sollte Berlin etwa doch Wahlen können?

Trotz der offensichtlichen Fortschritte verglichen zur Katastrophenwahl 2021 überschlagen sich erneut die Schlagzeilen. Immer wieder werden neue Nachrichten generiert, deren Haltbarkeitszeit aber oft sehr begrenzt ist. Diesmal geht es nicht um etwaige Wahlfehler wie falsche oder zu wenige Wahlzettel. Für Aufregung sorgt, dass die Ergebnisse sich täglich ändern. Was ist da los? Was bedeutet das für die Zusammensetzung der Parlamente und womöglich für die Bildung eines neuen Senats? Mit wem an der Spitze? Und über allem steht die Frage: Kann Berlin vielleicht doch keine Wahlen? Schon wieder nicht?

Das gewichtigste Problem begann noch in der Wahlnacht. Bis wenige Minuten vor Mitternacht hatten die Grünen einige Hundert Stimmen mehr als die SPD. Nachdem auch die allerletzten Wahlbezirke ausgezählt waren, lag die SPD mit mindestens 100 Stimmen vorne. Knapper geht es – fast – nicht. Die Konsequenzen sind gravierend: Zwar haben beide Parteien 18,4 Prozent der Stimmen und damit die gleiche Anzahl an Mandaten im Abgeordnetenhaus. Was wie ein klassisches Patt klingt, könnte der SPD tatsächlich die Gelegenheit geben, das Rote Rathaus für sich zu beanspruchen, sollte es zu einer Wiederholung des rot-grün-roten Bündnisses kommen. 

Fehler und Unregelmäßigkeiten bei Wahlen: In Demokratien sind sie üblich, in Diktaturen nicht

Dieser extrem knappe Ausgang sorgt für Unsicherheit und Spekulationen: Was wäre, wenn plötzlich irgendwo Unregelmäßigkeiten auftauchten? Und diese tauchten prompt auf. Bei allen Wahlen in Demokratien kommt es zu Unregelmäßigkeiten, nur in Diktaturen nicht. Da kann man sie nicht gebrauchen.

Aktuell sorgen Nachrichten aus dem Bezirk Lichtenberg – wobei Wasserstandsmeldungen der bessere Begriff wäre – für Aufregung. Einen Tag nach der Wahl waren im Büro der Bezirkswahlleitung im Ortsteil Hohenschönhausen Kisten mit Hunderten Briefwahlstimmen offenbar aus fünf der sechs Wahlkreise des Bezirks aufgetaucht. Sie waren also in der Nacht zu Montag nicht mitgezählt worden.

In Kreuzberg könnten Stimmen für Linke und Grüne verwechselt worden sein

Die Berliner Morgenpost wusste noch von einem anderen Verdacht aus einem anderen Bezirk. Demnach sind in einem Kreuzberger Wahlbezirk womöglich die Stimmen für Linke und Grüne miteinander vertauscht worden. Auswirkungen unklar.

Bei dem Lichtenberger Fall jagten zunächst unterschiedliche Aussagen über die genaue Anzahl der zunächst liegen gebliebenen Briefwahlstimmen durchs Internet: Medien wie der RBB oder der Tagesspiegel sprachen zunächst von einigen Hundert, später von 450, schließlich von 466. Auch über den Grund des unverhofften Fundes wurde fleißig spekuliert und drauflosbehauptet.

Bezirkswahlamt Lichtenberg: Kistenweise Stimmzettel erst am Montag bemerkt

Am Mittwoch klärte Bezirkswahlleiter Axel Hunger im Gespräch mit der Berliner Zeitung auf: Die Stimmzettel waren rechtzeitig genug eingegangen, seien aber im amtsinternen Postaustausch zwischenzeitlich vergessen und erst am Montagmorgen bemerkt worden. Das sei ärgerlich, so Hunger, „das nehme ich auf meine Kappe“. Aber es sei auch kein gravierendes Problem, schließlich seien diese Wahlzettel in den seit einigen Tagen laufenden Prüf- und Zählprozess im Bezirkswahlamt eingespeist worden. 

Die Prüfungen und Zählungen in den Bezirkswahlämtern sind öffentlich. Jeder ist eingeladen, zuzuschauen. Und dieser Tage haben viele daran Interesse. Immer wieder sickern auf diese Weise Zwischenstände durch.

Wahlkreis 2 in Lichtenberg: Noch ein Patt! Oder doch nicht?

Diese tauchten brühwarm in den Medien auf – erneut beim RBB und im Tagesspiegel, aber zum Beispiel auch bei der Nachrichtenagentur AFP. Sie berichteten von einem Patt im Lichtenberger Wahlkreis 3 zwischen den Erststimmenbewerbern von Linke und CDU, nachdem zunächst der Christdemokrat vorne gelegen hätte. Schon wieder ein Patt.

Sollte das so sein, müsste gelost werden. Spekulationen wurden angestellt: Was würde ein Linke-Sieg per Los für die Zusammensetzung des Berliner Parlaments bedeuten? Was wäre mit Ausgleichs- und Überhangmandaten? Würde die SPD infolgedessen womöglich ein Mandat verlieren und damit hinter die Grünen fallen, obwohl sie doch mehr Stimmen erhalten hätte? Wenige Stunden später lag dann wieder der CDU-Mann vorne. Um neun Stimmen!

Von Axel Hunger gibt es keine Zahlen. Aus Prinzip nicht. Der Lichtenberger Bezirkswahlleiter hat einen klaren Fahrplan: Am kommenden Montag liefert er die Gesamtergebnisse an den Bezirkswahlausschuss. Sollte der Ausschuss Ungereimtheiten monieren, könnte noch einmal nachgezählt werden, ehe die Lichtenberger – und alle anderen Berliner Bezirke auch – am Mittwoch kommender Woche Landeswahlleiter Bröchler die Ergebnisse mitteilen müssen. Dieser hat danach noch einmal fünf Tage Zeit, ehe er am Montag, den 27. Februar, das endgültige Endergebnis der Wahlen zum Abgeordnetenhaus und der Bezirksverordnetenversammlungen verkünden wird. Bis dahin gibt es keine Zahlen, nicht einmal Zwischenberichte.

Doch so viel Ruhe haben nicht alle: Längst fordert die Linkspartei eine Nachzählung aller Erststimmen für den Lichtenberger Wahlkreis 3. „Es soll keinerlei Zweifel an der Richtigkeit des Ergebnisses geben“, sagt Geschäftsführer Sebastian Koch. „Es ist so knapp.“

Wenn man Bezirkswahlleiter Hunger von diesem Ansinnen berichtet, wird er ungehalten. Es gebe keinerlei Hinweise auf Unregelmäßigkeiten und deshalb zum jetzigen Stand keinen Anlass für eine Nachzählung. „Ein enges Stimmenverhältnis gehört nicht dazu.“ Verweise auf Nachzählungen nach der 2021er-Katastrophenwahl in einzelnen Stimmbezirken lässt er nicht zu. Man habe gewusst, dass es dort zu Fehlern gekommen war. In Lichtenberg habe es damals keine gegeben – und gebe es nach Stand der Dinge auch jetzt nicht.