Berlin-Ein Jahr ist es her, dass der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke von einem rechten Terroristen ermordet wurde. In der Nacht auf den 1. Juni 2019 war der 65-Jährige von einem Kasseler Neonazi mit einem Kopfschuss aus nächster Nähe getötet worden. Der mutmaßliche Täter, dem voraussichtlich im Juni der Prozess gemacht wird, gab als Grund für seine Tat Lübckes Auftritt in einer Bürgerversammlung im hessischen Lohfelden im Oktober 2015 an, bei der es um eine Erstaufnahme-Einrichtung für Flüchtlinge ging. Der Politiker hatte damals lautstarken Störern der Veranstaltung zugerufen, sie könnten ja Deutschland verlassen, wenn sie christliche Werte in der Flüchtlingshilfe nicht vertreten wollen. Das Video mit Lübckes Satz wurde noch am selben Tag auf YouTube hochgeladen und umgehend mit Todeswünschen für den Politiker kommentiert. Auch für den mutmaßlichen Mörder war Lübcke seitdem ein Hassobjekt.

Aber ist das wirklich der einzige Hintergrund? Bei der aus Thüringen stammenden Terrorzelle „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) fanden Ermittler eine 2009 angefertigte Liste von Politikern und anderen Personen, die unter Rechtsextremen als politische Gegner gelten, die bekämpft werden müssen. Auch Lübcke, der 2009 sein Amt als Regierungspräsident antrat, stand auf dieser sogenannten Todesliste. Weil er Kommunalpolitiker war? Oder weil er sich schon in den 90er-Jahren in Thüringen um die politische Bildung von Jugendlichen kümmerte und sich gegen rechts engagierte – und zwar in Ohrdruf, wo sich in jenen Jahren neben Neonazis aus dem NSU-Umfeld auch der spätere mutmaßliche Mörder Lübckes häufig aufgehalten haben soll, weil seine heutige Frau aus der Gegend stammt?
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„Wir hatten damals große Probleme in Ohrdruf, mit einer starken rechtsextremen Szene“, erinnert sich Klaus Scheikel. Scheikel, heute 79 Jahre alt, war gleich nach der Wende Bürgermeister geworden im westthüringischen Ohrdruf und blieb es bis 2006. „Vor allem junge Leute waren das, 14 bis 18 Jahre alt, die provozieren und zerstören wollten“, erzählt er weiter. „Je genauer man hinsah, desto mehr bekam man mit, wie die heiß gemacht wurden von anderen Rechten, die von auswärts kamen. Die fuhren in dicken Autos mit Kennzeichen aus Hessen vor, aber auch aus Arnstadt und Eisenach. Da waren Typen dabei, von denen man später erfuhr, dass sie auch mit dem NSU zu tun hatten.“
Neonazihochburg in Thüringen
Bis weit nach der Jahrtausendwende galt die 6000 Einwohner zählende Kleinstadt im Gothaer Land als einer von mehreren Neonazihochburgen im Freistaat. Der Thüringer Heimatschutz, aus dem heraus sich der NSU gegründet hatte, marschierte hier regelmäßig auf, nahezu wöchentlich kam es zu gewalttätigen Angriffen auf „nichtrechte“ Jugendliche. Der Gewalt und dem Hass der Rechten etwas entgegensetzen wollten die Betreiber der Jugendbildungsstätte im Haus Mühlberg am Stadtrand von Ohrdruf. Der von einem großen Park umgebene, eher an eine Burg erinnernde monströse Bau aus den 30er-Jahren war zu DDR-Zeiten ein abgeschirmtes FDJ-Schulungsobjekt gewesen. Nach der Wende machte es die CDU-Regierung in Erfurt zur Landesjugendbildungsstätte. Ihr erster Leiter wurde Walter Lübcke.
„Der Mann war ein Glücksfall für uns ‚Anfänger‘ aus dem Osten“, sagt Michael Panse. Der heutige Erfurter CDU-Stadtrat war 1991 Landesgeschäftsführer der Jungen Union (JU) und hatte damals Lübcke kennengelernt. „Er kam aus dem Westen, der kannte die Strukturen der Jugendarbeit, der hatte gute Verbindungen und Ideen, der stellte was auf die Beine.“ Lübcke habe auch die Sanierung von Haus Mühlbeck auf den Weg gebracht, sich um Fördergelder gekümmert und den Kontakt zur Stadt gehalten. Ab 1991 hätten dann regelmäßig Sommercamps stattgefunden in Ohrdruf, Jugendliche aus ganz Thüringen kamen dorthin, erzählt Panse. Es habe Musik und Filmvorführungen gegeben, Workshops über Demokratie und Diskussionen mit Politikern, die Lübcke herangeholt hatte. Der damalige Ministerpräsident Bernhard Vogel sei dagewesen, auch Heiner Geißler und Bundesfamilienministerin Claudia Nolte.
„Als die rechte Gewalt immer schlimmer wurde im Land, hatte Walther Lübcke die Idee, im Haus Mühlberg eine ‚Rock gegen Gewalt‘-Veranstaltung auf die Beine zu stellen. 1993 fand die erste statt, ein paar Jahre folgten weitere.“ Am Tag sei diskutiert worden mit Politikern, was man gegen Rechtsextremismus unternehmen könne, abends seien die Bands aufgetreten. „Walter Lübcke war immer mittendrin, er hatte ein Talent, mit den jungen Leuten zu reden, ihre Sprache zu sprechen. Das war wirklich beeindruckend“, ist Panse heute noch begeistert.
Gab es damals Anfeindungen von rechts gegen das Haus Mühlberg oder sogar gegen Lübcke? Der alte Bürgermeister Scheikel hat keine Erinnerungen daran. Ausschließen aber will er es nicht. „Lübcke hatte eine offene, direkte Art“, sagt er. „Der Mann sagte, was er dachte, und das hat vielleicht nicht jedem gepasst.“
Auch Stadtrat Panse aus Erfurt sind keine Drohungen gegen Lübcke aus jener Zeit bekannt. „Wir hatten aber stets einen Security-Dienst beauftragt, wenn wir Veranstaltungen im Haus Mühlberg durchführten“, sagt er. „Wir wussten, Ohrdruf war ein heißes Pflaster damals, und die Rechten sahen uns als ihre politischen Gegner an.“