Berlin-Das Schlimmste, was Annalena Baerbock zuletzt widerfahren ist, war nicht die öffentliche Belehrung über richtiges Zitieren und das ordentliche Verfertigen eines Lebenslaufs. Sie wird es sogar ertragen haben, von einer schnippischen TV-Moderatorin gefragt zu werden: „Frau Baerbock, warum machen Sie sich toller, als sie sind.“
Blöde Frage, natürlich tritt man nicht im Bescheidenheitskleid an und lässt erst einmal die anderen ihren Vers aufsagen, ehe man das Wort erhebt. Als frühere Leistungssportlerin weiß sie durch die Erfahrung mit ihrem Sportgerät, das Trampolin, dass es hoch und runter gehen kann. Es kommt dabei darauf an, Haltung und Rhythmus zu bewahren.
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Das Unangenehmste dürfte gewesen sein, selbst von der Konkurrenz in Schutz genommen zu werden. Wenn sogar der joviale Herr Laschet der Ansicht ist, dass man nun mit der grünen Kollegin doch, bitteschön, wieder über Benzinpreise und Klimaziele streiten möge, dann läuft irgendetwas schief in dem Land, dem nach 16 Jahren unter dem Regiment ein und derselben Kanzlerin nicht nur ein neuer ins Haus steht, sondern in dem auch etwas Neues kommen möge.
Schluss mit dem Quatsch, jetzt wird diskutiert
Die allgemeine Klage ist allzu verständlich, nicht zu viel Zeit und Energie mit den Zitierweisen eines Buches zu verschwenden, das weder zur Erbauung noch zum gesteigertem Erkenntnisgewinn darüber beiträgt, was von einer grünen Politik zu erwarten ist – wenn man ihr denn qua Wahl oberste Entscheidungsbefugnisse verschafft. Allein die Annahme führt in die Irre, dass der Wahlkampf geeignet sei, den Fragen nach EEG-Umlage und der Berechnung des Rentenschlüssels den ihnen gebührenden Raum zu geben.
Aus meiner Jugend ist mir ein Sponti-Spruch in Erinnerung geblieben, der lautete: „Schluss mit dem Quatsch, jetzt wird diskutiert!“ Wir fanden das lustig, denn natürlich trat beim Diskutieren der ganze Quatsch erst offen zutage. Mühelos aber war es möglich, gegen den Unsinn der anderen die eigenen Überlegungen als guten Plan oder gar Idee ins Feld zu führen.
Es soll also hier eine Lanze gebrochen werden – ganz im Sinne des fast gleichnamigen ZDF-Moderators – für einen leidenschaftlichen Wahlkampf und all die Unverschämtheiten und Ungerechtigkeiten, die in ihm transportiert werden. Wahlkampf ist Probehandeln, in dem es gerade nicht darauf ankommt, die in einer Koalition ausgehandelten Kompromisse fein austariert in Gesetzesform zu bringen. Zum Probehandeln gehört ein Energieüberschuss, der aus der kontrafaktischen Annahme hervorgeht, Politik sei die Umsetzung eines grade gefassten klugen Gedankens. Vielmehr tritt der Wahlkämpfer derart auf, als könne er allein entscheiden, was zu tun sei. Und das soll sich nicht so anhören, als würde er aus einem Tableau von vier Fragen die richtige Antwort erraten oder auf den Telefonjoker setzen. Der Wahlkämpfer und die Wahlkämpferin sollen Charaktere sein – wir wollen nicht gleich auf Charismatiker hoffen –, die wissen, was zu tun ist.
Was man von Hugh Grant lernen kann
Dass politische Entscheidungen nach ganz anderen Regeln verlaufen, hat niemand so spitzfing beschrieben wie der Soziologe Niklas Luhmann in seinem Buch „Die Politik der Gesellschaft“. Annalena Baerbock hat ihrerseits zwar Experten zitiert, diese aber nicht ohne Grund unterschlagen. Zwar erwarte man von Experten, so Luhmann – Achtung, Zitat –, „dass sie die Unsicherheit in Bezug auf Möglichkeiten der Zukunft einschränken.“ Aber wenn die Experten ihr Wissen erst einmal entfalten, so fasse ich Luhmann in meinen schlichten Worten zusammen, werden Entscheidungen nicht gerade einfacher.
Die Wahlkämpferin also schießt übers Ziel hinaus, will Schrauben drehen und einen doppelten Salto, ganz so, als spiele die Schwerkraft gerade keine Rolle. Natürlich muss man auch in der Politik landen können. Es wird nicht schaden, sich Expertenwissen anzueignen und nach Wegen zu suchen, es auch auszudrücken.
In dem Film „Love, Actually“ von 2003 spielt Hugh Grant einen britischen Premierminister, der es ins Amt geschafft hat, weil er gut aussieht und zu sagen weiß, was die Leute hören wollen. So einen nennt man Populist. Außerdem ist er ein Frauenheld und verliebt sich in eine Mitarbeiterin aus Downing Street Nummer 10. In einer Szene des Films vergreift sich der amerikanische Präsident an ihr, was den Premier Grant zu einer pathetischen Rede über britische Tugenden veranlasst sowie die Bereitschaft, diese auch entschlossen zu vertreten, auch gegenüber mächtigen Verbündeten. Grant wird aus persönlicher Verärgerung zum leidenschaftlichen Staatsmann.
Beobachten wir also den Wahlkampf nicht als Wächter über den Gebrauch der richtigen Worte zur passenden Gelegenheit und die Einhaltung von Tugenden, die ohnehin kaum noch jemand vorlebt. Fragen wir danach, auf was es sich lohnt, politische Leidenschaft zu verwenden, wie man sie erzeugt und vertritt.
Warum Frau Baerbock und all die anderen sich toller machen, als sie sind, ist übrigens leicht zu beantworten. Sie sind darum bemüht, das ungute Gefühl der kognitiven Dissonanz zu überwinden – jene Spannung, die entsteht, wenn etwas nicht so ist, wie es sein sollte. Manchmal nennt man das Politik.