Weihnachten ohne Wunder: Spielzeugmacher im Erzgebirge in Not

Das Erzgebirge ist Corona-Hotspot. Die berühmte „Seiffener Weihnacht“ muss daher ausfallen. Weil die Touristen fehlen, darben die Spielzeugmacher. Ein Besuch.

Gedrehte und anschließend geschnitzte Reifentiere liegen einer Seiffener Werkstatt.
Gedrehte und anschließend geschnitzte Reifentiere liegen einer Seiffener Werkstatt.dpa/Hendrik Schmidt

Seiffen-Vor ein paar Wochen war man noch optimistisch in Seiffen. Auf der Webseite des erzgebirgischen Dorfs wurde für die „Seiffener Weihnacht“ geworben. Bunte Fotos von Sternensängern und traditionell gekleideten Bergleuten waren zu sehen, von Menschentrauben vor illuminierten Glühwein- und Verkaufsständen. Mehr als 100.000 Besucher aus der ganzen Welt zieht die „Seiffener Weihnacht“ mit Budenzauber und  Veranstaltungen von Lichterzug bis Bergmannparade normalerweise an, Jahr für Jahr. Doch was ist in diesem Jahr, in diesem Winter schon normal?

Die Gemeinde hat die Werbung für den Weihnachtsmarkt inzwischen aus dem Netz genommen. Der Erzgebirgskreis ist gerade einer der Corona-Hotspots in Deutschland. Und Seiffen, das Dorf, das als Zentrum des erzgebirgischen Spielzeugmacherhandwerks gilt,  ist im Corona-Advent 2020 nicht wiederzuerkennen. Leise ist es in Seiffen in diesem Winter, leise und leer und trostlos. Die sonst immer überfüllten Parkplätze im Dorf sind noch nicht einmal zur Hälfte ausgelastet. Reisebusse, von denen in den Vorjahren täglich bis zu 100 nach Seiffen kamen, fehlen völlig. Und auf der Hauptstraße  verlieren sich die Spaziergänger. Sie haben die Wahl, können an einer der nur noch knapp zehn Buden Bratwurst, Stollen und Glühwein kosten oder sich in die kleinen Schlangen vor den Geschäften mit dem Weihnachtsschmuck einreihen. Je nach Größe des Ladens dürfen sich zwischen zwei und zehn Kunden drinnen aufhalten.

In diesem Sommer kam mehr Touristen als sonst ins Erzgebirge

„Es ist ja nicht Weihnachten, was in diesem Jahr ausfällt, sondern nur unsere Seiffener Weihnacht“, sagt Bürgermeister Martin Wittig im kleinen Rathaus unterhalb der achteckigen Dorfkirche. Es klingt, als wolle er sich selbst ein wenig trösten. „Aber traurig ist das schon, sehr traurig. Weil die Monate von November bis Januar ein wesentlicher Wirtschaftsfaktor sind für unsere Gemeinde.“ Damit meine er nicht nur die Hotels und Gaststätten, die geschlossen sind. Große Sorgen, sagt Bürgermeister, mache er sich auch um „unsere mehr als 100 Männelmacher“ – und meint damit die Spielzeugmacher.  „80 Prozent ihrer Jahresproduktion werden in den letzten drei Monaten des Jahres verkauft, ein Großteil davon hier in Seiffen und auf den Weihnachtsmärkten in Sachsen, die in diesem Jahr alle ausfallen. Der Lockdown wird die Branche hart treffen.“

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Gunther Flath ist kein Männel-, sondern ein Stübelmacher. Flath, 72 Jahre alt, ein kleiner und eher gelassener Mann, baut filigrane Miniaturstübchen, die auf eine Hand passen oder sogar in eine Streichholzschachtel. Seine kleinen Kunstwerke zeigen etwa ein Säge- oder ein Hammerwerk, eine Schulstube, einen Spielzeugladen, ein Restaurant mit Hochzeitsgesellschaft. „Im Sommer haben wir gut verkauft in unserem Laden in der Hauptstraße, viel besser als üblich in dieser Jahreszeit“, erzählt er. „Wir hatten ja  deutlich mehr Touristen im Erzgebirge als sonst im Sommer.“ Aber seit Anfang November, seit Beginn des zweiten Lockdown, blieben die Kunden aus. Und bei denen, die kommen, sitze das Geld nicht so locker. „Heute zum Beispiel habe ich nichts verkauft“, sagt er. „Die Leute kommen rein, gucken und gehen wieder.“

Flaths Wohnhaus und Werkstatt liegen ein paar Hundert Meter vom Rathaus die Straße hoch. Früher hätten sich eher selten Kunden hierher an den Ortsrand verirrt, sagt Flath. Seit er vor 20 Jahren einen Laden in der Dorfmitte übernehmen konnte, in dem er auch eine Schauwerkstatt betreibt, laufe das Geschäft erheblich besser. Zeitweise hatte sein Familienbetrieb, den er 1975 in der DDR gründen durfte, 15 Angestellte. Heute bauen nur noch er und seine Tochter Cornelia die Stübchen und verkaufen sie im Laden. Nächstes Jahr, so war es geplant, sollte die Tochter die Firma übernehmen. „Aber nun müssen wir erst einmal abwarten, wie das Weihnachtsgeschäft läuft und was kommendes Jahr nachkommt.“ Existenzsorgen habe er aber nicht. „Es hat immer gereicht, und es wird auch diesmal wieder reichen, sage ich mir.“

In der DDR wurde das Potenzial der Branche entdeckt und gefördert

Seit 300 Jahren wird im Erzgebirge Holzspielzeug hergestellt. Daraus hat sich eine Handwerkskunst entwickelt, die weltweit gefragt ist. Wobei es der DDR-Außenhandel war, der das Potenzial dieser Branche entdeckt und gefördert hat. Zu Ostzeiten wurde die erzgebirgische Spielzeugindustrie in Seiffen konzentriert und kultiviert. Die kleinen privaten und größeren volkseigenen Handwerksbetriebe bekamen Holz und Plankennziffern zugeteilt, ihre Produkte wurden noch im Ort auf Lkw verladen und in den Westen gekarrt, wo sie harte Devisen einbrachten. Für die einheimische Bevölkerung blieb nichts übrig.

Heute gibt es in Seiffen an die 120 Spielzeugmanufakturen, mehr als irgendwo sonst. Einige von ihnen sind größere Betriebe, die bis zu 50 Mitarbeiter haben. Bei den meisten aber handelt es sich um kleine Familienunternehmen wie das der Flaths, in denen manchmal nur zwei oder drei Handwerker Nussknacker und Räuchermännchen, Schwibbögen und Pyramiden, Spieldosen und Baumbehang, Engel, Reiterlein und zig andere traditionelle Holzfiguren drechseln, sägen und zusammenkleben. Oder auch den Virologen Drosten als Räuchermännchen herstellen, ein Verkaufsschlager in diesen sonst so kargen Tagen. In Seiffen schlägt das Herz der erzgebirgischen Volkskunst. Noch.

Denn auch hier fehlt es an Nachwuchs. Die meisten Handwerksmeister in Seiffen sind heute zwischen 50 und 60, einige auch schon jenseits der 70. Jüngere Männer und Frauen um die 30, die einen der Betriebe im Ort führen, kann man an einer Hand abzählen. Zwar bieten mehrere Unternehmen Lehrstellen an, der Landkreis betreibt eine Holzspielzeugmacher- und Drechslerschule in Seiffen. Aber es mangelt an Interessenten.

„In einigen Jahren, so fürchte ich, wird sich die Zahl der Betriebe in Seiffen um ein Drittel verringert haben“, sagt Juliane Kröner. „Auch die größeren Unternehmen werden dann wohl Arbeitsplätze abgebaut haben. Und da denke ich noch nicht einmal über die möglichen Folgen der Corona-Krise nach.“

Juliane Kröner ist Geschäftsführerin der Seiffener Dregeno, der 1919 gegründeten Genossenschaft der Drechsler, Bildhauer, Holz- und Spielwarenhersteller. Ihr gehören heute 123 Betriebe an, darunter auch der von Gunther Flath und einige aus den Nachbarorten Seiffens. „Unsere Mitglieder sind vor allem kleinere Unternehmen, für die wir eine Art Vermarktungsgesellschaft sind“, erklärt Juliane Kröner. „Das heißt, wir kaufen die Produkte unserer Mitglieder an und vertreiben sie unter unserem Logo – in eigenen Fachgeschäften, etwa in Potsdam und in Berlin nahe dem Hackeschen Markt, und im Onlinehandel. Aber wir beliefern auch Einzelhändler in der ganzen Bundesrepublik, in Österreich und der Schweiz und wickeln den Export vor allem in die USA und nach Japan ab, wo die Seiffener Produkte sehr gefragt sind.“

Touristen bleiben in Seiffen aus, Weihnachtsmärkte gibt es nicht

Der Virologe Christian Drosten als Räuchermann mit Mund-Nasen-Schutz - ein Werk des Seiffener Spielzeugmachers Tino Günther.
Der Virologe Christian Drosten als Räuchermann mit Mund-Nasen-Schutz - ein Werk des Seiffener Spielzeugmachers Tino Günther.dpa/Hendrik Schmidt

Juliane Kröner, 43 Jahre alt, leitet seit 2013 die Geschicke der Genossenschaft. Ursprünglich hat die Sächsin, Mutter zweier Kinder, Produktdesign studiert. Nach Stationen in Halle, Leipzig und Kassel kam sie vor zwölf Jahren zurück in die Region. Sie gab Lehrgänge zur Produktentwicklung, und als fünf Jahre später eine Neubesetzung des  Vorstandspostens in der Dregeno anstand, sagten viele: Die Kröner kann das. Nebenbei studierte die neue Chefin zwei Jahre lang Unternehmensführung. Man hört es, Juliane Kröner verwendet gern englische Fachbegriffe, redet viel von Traffic und Cluster, von Just-in-time-Versand. „Es war nicht immer ganz leicht, meine Ansichten einer moderneren, zeitgemäßen Führung der damals doch sehr noch alter Tradition verhafteten Dregeno zu vermitteln“, sagt sie. „Aber es hat funktioniert.“ In den vergangenen Jahren ist der Umsatz der Dregeno auch dank des von Kröner ausgebauten Onlinehandels stetig gestiegen, 2019 lag er bei über sechs Millionen Euro, eine Rekordmarke.

In diesem Jahr wird es einen heftigen Dämpfer geben, fürchtet sie. „Unsere Lager sind noch sehr voll.“ Im Frühjahr, beim ersten Lockdown, sei das Ostergeschäft ausgefallen, nun mache der zweite Lockdown das Weihnachtsgeschäft kaputt. In Seiffen blieben die Touristen aus, Weihnachtsmärkte fänden nicht statt, Einzelhändler hätten weniger Waren geordert oder sogar Bestellungen storniert. Zudem sei der Export in die USA und nach Japan völlig zusammengebrochen. „Wenn man bedenkt, dass wir die Hälfte unseres Umsatzes in den letzten beiden Monaten des Jahres machen, droht ein ziemlicher Schlag ins Kontor.“

Für die Männelmacher, die in der Dregeno zusammengeschlossen sind, dürfte sich das in diesem Jahr noch nicht spürbar auswirken. Sie haben ihre Produkte ja schon Anfang 2020 an die Genossenschaft verkauft. Das böse Erwachen könnte aber im nächsten Jahr folgen, wenn ihnen die Dregeno deutlich weniger Erzeugnisse abnimmt als in den Vorjahren, weil die Lager ja noch gut gefüllt sind.

Besonders hart trifft der Weihnachts-Lockdown die Spielzeugmacher, die auf eigene Rechnung arbeiten und nicht der Dregeno angehören. Einer von ihnen ist Heiner Stephani aus Seiffens Nachbargemeinde Olbernhau. Zusammen mit seiner Frau Ingrid fertigt der Drechslermeister seit drei Jahrzehnten vor allem Räuchermännchen, Schwebeengel und Baumbehang. Wer die Stephanis besucht, kann im Laden stöbern, aber auch nach hinten in die kleine Werkstatt gehen, Ingrid Stephani beim Bemalen der Figuren zuschauen und ihrem Mann beim Drechseln, wenn die Späne fliegen. So zumindest ist es gewesen, bevor das Virus kam.

„Dieses Jahr geht das alles nicht. Und das ist Mist“, sagt Stephani, der temperamentvolle Männelmacher mit Bart und Bauch. Seine Frau und er liebten die Adventszeit, ergänzt er, die Hutzenabende in der Werkstatt mit Stollen, Glühwein, Schaudrechseln, Geschichten und Musik. Alles verboten diesmal, die Kunden dürfen nicht in die Werkstatt.

„Uns fehlen die Touristen, die hier reinkommen, staunen, sich verlieben in die Sachen und kaufen, manchmal sogar mehr, als sie eigentlich wollten.“ Natürlich seien da die Stammkunden und Sammler, die auch jetzt mal kurz vorbeikämen oder einen neuen Räuchermann übers Internet bestellten. „Aber das sinnliche Erlebnis, das gibt es online nicht“, sagt Stephani. „Wenn du hier bist, die Häuser und Fenster erleuchtet siehst im Weihnachtsschmuck, da nimmst du doch auch was für die Seele mit. Und wenn die Leute dann heimfahren, ihren Freunden und Nachbarn erzählen vom Erzgebirge und vom Stephani, ist das die beste Werbung.“

„Du wirst nicht reich als Männelmacher“

Auch für die Stephanis sind die Monate November und Dezember eigentlich die Umsatzbringer. „Fast alles, was wir das Jahr über produzieren, müssen wir in dieser Zeit verkaufen“, sagt er. „Doch diesmal wird es nicht klappen. An manchen Tagen haben wir nicht einen Kunden.“ Sorgt er sich wegen der Folgen für sein Geschäft? Heiner Stephani wiegt bedächtig den Kopf. „Die Leute denken immer, wir sind Millionäre, weil unsere Handwerkskunst ihren Preis hat“, sagt er. „Aber das ist Blödsinn, du wirst nicht reich als Männelmacher.“ Im Frühjahr und Sommer bietet er deshalb Drechslerkurse an, das bringt wichtige Einnahmen, hinzu kommen noch die Volksmusikkonzerte mit seiner Hauskapelle. „Wir haben unser Auskommen, und wir werden so ein Jahr wie das jetzt wegstecken“, sagt er. „Aber dann muss es wieder normal weitergehen.“

Und was ist mit den Corona-Hilfen für Selbstständige wie ihn? Stephani winkt ab. Im Radio klinge das immer gut. „Wenn’s nicht läuft, sagen sie, dann stellen wir euch einen Sack mit 10.000 Euro hin“, sagt er. „Aber wenn du es dann beantragst, dann prüfen sie und sagen, von euren Nachbarn wissen wir, dass den ganzen Tag über Licht bei euch in der Werkstatt brennt. Also habt ihr doch Arbeit, wozu braucht ihr dann das Geld, fragen sie dann.“ Stephani schnaubt, er hat sich in Rage geredet. „Na klar haben wir Arbeit, genug Arbeit. Aber ich muss es ja verkaufen, was ich in meiner Werkstatt geschaffen habe. Das ist das Problem.“

Corona-Hilfe wollen die Stephanis  erst einmal nicht beantragen. „Auch das wird vorübergehen. Wir krutschen schon“, sagt Ingrid Stephani auf Erzgebirgisch, was übersetzt wohl so viel bedeutet wie durchwursteln.