Wenn man Wladimir Putin auf Misserfolge im Krieg anspricht, dreht er durch
Der Krieg in der Ukraine kommt nicht voran. Im Hintergrund wächst der Druck auf Putin. Die Antwort des russischen Präsidenten? Wut.

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ging am 24. Mai in seinen mittlerweile vierten Monat und ein baldiges Ende der Kriegshandlungen bleibt nach wie vor nicht absehbar. In den vergangenen 13 Wochen änderte sich die Haltung der russischen Eliten sowie des Beamtenapparates gegenüber der sogenannten Spezialmilitäroperation mehrfach grundlegend.
Die anfängliche Schockstarre und der extreme Pessimismus machten kriegslüsterner Euphorie und hoffnungsvollem Optimismus Platz und scheinen mittlerweile von einer allgegenwärtigen pessimistisch-fatalistischen Stimmung abgelöst worden zu sein. Zwar nehmen offenbar allgemeine Niedergeschlagenheit und Unzufriedenheit mit Wladimir Putin persönlich stetig zu, von einer offenen Empörungswelle ist die Lage jedoch nach wie vor weit entfernt und eine klare Vorstellung für eine Post-Putin-Ära gibt es schon gar nicht.
Unzufriedenheit mit Putin wächst
Im renommierten – von der russischen Regierung als Auslandsagent gebrandmarkten – Online-Medium Meduza berichtet der Innenpolitikjournalist Andrej Pertsev am 24. Mai über seine Gespräche mit Kreml-nahen Beamten aus dem Regierungsapparat und der mächtigen Präsidialverwaltung – eine die zentrale Amtsausübung des Präsidenten der Russischen Föderation koordinierende Behörde, nach Ansicht der Experten eine Art Schattenkabinett des Präsidenten und das eigentliche Hauptquartier des Machtsystems.

Nach Ansicht seiner Gesprächspartner sei die patriotische Hochstimmung samt Forderungen nach einem Kampf bis zum siegreichen Ende allgemeiner Ernüchterung gewichen. Drei Monate nach Beginn der Invasion überwiege der Pessimismus in der Bewertung der vorläufigen Ereignisse. Auch die Zahl der mit Wladimir Putins Politik und seinen kriegsbezogenen Entscheidungen unzufriedenen Personen nehme innerhalb der Beamtenschaft sowie auch auf der Entscheidungsträgerebene stark zu. Diejenigen, die mit Putin vollends zufrieden seien, gebe es wahrscheinlich ohnehin nicht mehr, so ein Gesprächspartner von Meduza.
Eliten sind unzufrieden über den Krieg
Interessanterweise besteht Unzufriedenheit sowohl unter den Kriegsbefürwortern als auch unter den Anhängern einer diplomatischen Lösung. Die Kriegsbefürworter seien mit dem Tempo des Ukraine-Krieges unzufrieden und von der Notwendigkeit eines deutlich entschlosseneren Vorgehens überzeugt. Vor allem dürfe nicht der Eindruck der Schwäche Russlands entstehen. Viele würden sich zumindest eine Teilmobilmachung und einen Krieg bis zur Kapitulation der ukrainischen Führung – im Idealfall bis zur Einnahme Kiews – wünschen. Zu einer auch nur teilweisen Mobilmachung ist der Kreml aber nicht bereit.
Nach Informationen von Meduza scheint die Präsidialverwaltung aufgrund von Umfragen davon überzeugt zu sein, dass auch die ausdrücklichen Unterstützer der sogenannten Spezialmilitäroperation weder selbst in den Kriegseinsatz gehen noch ihre Angehörigen an die Front schicken möchten. Wirtschaftsliberale Elitenkreise in- und außerhalb der Regierung seien dagegen einerseits über die Tatsache des Krieges unglücklich, schreibt Pertsev, und andererseits über das Ausbleiben ernstzunehmender Schritte in Richtung einer diplomatischen Verhandlungslösung.
Sanktionen verhindern vernünftiges Arbeiten
Besonderes Unverständnis zeigen seine Interviewpartner über die im Vorfeld der Invasion ausgebliebenen Überlegungen hinsichtlich potenzieller Sanktionen. Denn vom Ausmaß der Sanktionen zeigen sich alle überrascht. Unter einem derartigen Sanktionsregime könne man nicht vernünftig arbeiten, so regierungsnahe Gesprächspartner von Meduza. Auch die langsam sichtbar werdenden zahlreichen Schwierigkeiten in der Wirtschaft bereiten regierungsnahen Kreisen große Sorgen.
Ein Interviewpartner sieht spätestens im Hochsommer zahlreiche Probleme unter anderem im Transportbereich und im Medizinwesen, ja selbst in – dem seit 2014 angeblich krisenfesten – Landwirtschaftsbereich kommen. Insofern besteht in den Gesprächen mit Meduza Einigkeit hinsichtlich der tiefgreifenden Auswirkungen internationaler Sanktionen.
Eine Rückkehr zur Lebensführung vor Beginn der Invasion erwartet keiner der Interviewpartner von Meduza. Von einer nennenswerten positiven Entwicklungsdynamik Russlands könne keine Rede sein, so der Beitragsautor Andrej Pertsev. Die meisten der Kreml-nahen Quellen Pertsevs hoffen auf ein halbwegs erträgliches Überleben unter dem Sanktionsregime mithilfe von Grauimporten und Handelsausbau mit China und Indien.
Jede kritische Stimme wird im Keim erstickt
Währenddessen möchte der russische Präsident offensichtlich nicht über die zahlreichen wirtschaftlichen und sozialen Implikationen der internationalen Sanktionen nachdenken, was letztlich zusätzlich Unruhe und Ärger innerhalb der Eliten und der Beamtenschaft hervorruft. Vor allem aber verweigere Wladimir Putin den Glauben an den unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Angriffskrieg gegen die Ukraine und den wirtschaftlichen Schwierigkeiten seines Landes, so Pertsev.
Dennoch wird der Kreml zunehmend nervöser. Jede kritische Stimme – mag diese noch so konstruktiv und linientreu sein – soll dabei im Keim erstickt werden. Bei einem Gespräch am 20. Mai mit Anton Alichanow, dem einflussreichen Gouverneur des strategisch wichtigen Gebietes Kaliningrad, erkundigte sich Wladimir Putin nach genauen Gründen für den Rückgang der Bauproduktion in der Region.
Alichanows Verweis auf logistische Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der sogenannten Spezialmilitäroperation. Dabei brachte er anscheinend Putin offensichtlich in Rage, was in einer öffentlichen Demütigung Alichanows gipfelte. Mit scharfen Worten wies Putin Alichanow darauf hin, dass die Bauproduktion in der russischen Exklave Kaliningrad bereits 2020 zu sinken begann. Mit der „Spezialmilitäroperation im Donbass“ habe der Bauproduktionsrückgang nichts zu tun, so der russische Präsident. Auch an die tatsächliche Umsetzung eines – für Russland extrem problematischen – Erdöl- und Erdgasembargos durch EU-Staaten glaube der Kreml nach wie vor nicht.
Nachfolgerreigen beginnt sich zu drehen?
Angesichts der wachsenden Unzufriedenheit mit Wladimir Putin persönlich habe eine Diskussion über eine Zukunft nach Putin begonnen, so mehrere Meduza-Quellen. Von ausgereiften Umsturzplänen seien diese Überlegungen sehr weit entfernt, dennoch bestehe eine grundsätzliche Einigkeit darüber, dass Putin „in einem absehbaren Zeitraum“ nicht mehr an der Spitze des Staates stehen werde.
Unter den potenziellen Nachfolgern finden sich die Namen des Moskauer Bürgermeisters Sergej Sobjanin, des ehemaligen Präsidenten Russlands (2008–2012), und aktuell des stellvertretenden Vorsitzenden des Sicherheitsrates Dmitrij Medwedew sowie des ersten stellvertretenden Leiters der Präsidialverwaltung und seit kurzem Kremlkurator für den Donbass in Personalunion Sergej Kirijenko.
Gerade in diesem letzten Gesprächsteil verbinden sich berechtigter Ärger, Frust über das Fehlen realistischer Exit-Szenarien sowie letztlich die naive Hoffnungen der Interviewgäste von Meduza auf eine wunderliche Weise miteinander. Der Präsident habe einen Schlamassel angerichtet, dieser könne aber durch Verhandlungen wieder in Ordnung gebracht werden, zeigt sich ein Gesprächspartner überzeugt.
Von den Abbildern des Wunschdenkens
So spannend und denkanregend die Ausführungen sowie die Insiderinformationen der Interviewgäste von Andrej Pertsev und Meduza auch sein mögen, so liefern diese letztlich lediglich ein idealisiertes Abbild des in den Elitenkreisen und der Beamtenschaft vorherrschenden Wunschdenkens und zeugen eindrucksvoll von einer allgegenwärtigen Bestürzung und Ratlosigkeit.
Denn die entscheidende – alle bis dahin angestellten Überlegungen relativierende – Passage findet sich gegen Ende des Meduza-Artikels. Die Gesprächspartner betonen, dass, ungeachtet aller Gerüchte um Nachfolgerpläne, Wladimir Putin das Präsidentenamt ausschließlich im Falle einer ernsthaften Verschlechterung seines Gesundheitszustandes verlassen werde.
Aus diesem Grunde komme aktuell die Unzufriedenheit unter den Eliten und hochrangigen Beamten nur in persönlichen Gesprächen zum Ausdruck. Die aktuelle Stimmung im Beamtenapparat fasst eine der russischen Regierung nahestehende Quelle gegenüber Meduza vortrefflich zusammen: Ungeachtet ihres Ärgers arbeiten alle weiter und versetzen das Land schrittweise in einen allgemeinen Kriegszustand.
Alexander Lukaschenko ist eine der großen Unsicherheiten
Nach Angaben von Meduza wird beispielsweise an der Vorbereitung von Referenda über den Anschluss der sogenannten Volksrepubliken von Donezk und Luhansk sowie der von den russischen Streitkräften besetzten Teile der ukrainischen Regionen Cherson und Saporischschja auf Hochtouren gearbeitet.
Wann diese Referenda genau stattfinden werden, möchte Moskau aktuell von den Entwicklungen der Kampfhandlungen im Donbass abhängig machen. Das aus heutiger Sicht realistische Datum sei 11. September, der Einheitliche Wahltag. Den Gesprächspartnern von Meduza zufolge könnte zum gleichen Zeitpunkt ein Referendum über den Beitritt der abtrünnigen georgischen Region Südossetien zu Russland abgehalten werden.
Auch ein Referendum über den Zusammenschluss zwischen Russland und Belarus stehe im Raum, so die Meduza-Quellen. Beim Letzterem bleibe aber der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko die größte Unsicherheit. Noch könne er sich dagegen erfolgreich wehren.
Die Zeit spielt gegen Russland: Wladimir Putin muss sich fürchten
Die in den Interviews mit den Gesprächspartnern von Meduza deutlich zum Ausdruck kommenden Sorgen vor unmittelbar bevorstehenden wirtschaftlichen Problemen zeugen eindrucksvoll vom Ernst der Lage und verheißen für die unmittelbare Zukunft Russlands nichts Positives.
Bald dürften sich nicht nur die russischen Eliten von Wladimir Putin abwenden, sondern auch die nach wie vor hohen Umfragewerte Putins im Angesichte dringend notwendiger Einschnitte im sozialpolitischen Bereich zu sinken beginnen. Die sprichwörtliche Leidensfähigkeit der russischen Bevölkerung verfügt nämlich über sehr klare Grenzen.
Sollte sich aber der Lebensstandard der Bevölkerung deutlich verschlechtern, wird die Wahrscheinlichkeit für sozial motivierte Massenproteste steigen. Dabei dürften sich die Zehntausende meist junger Kriegsveteranen des russischen Krieges in der Ukraine zu einem entscheidenden Faktor für die Stabilität Russlands in der zweiten Jahreshälfte 2022 herauskristallisieren. Sollte es aber zu sozial motivierten Massenproteste kommen, wird die Unzufriedenheit innerhalb der Eliten und der Bürokratie zu einem sehr wichtigen Faktor für die Stabilität des Regimes.
Mit jedem vergehenden Tag wendet sich der Zeitfaktor somit immer stärker gegen Russland und gegen Wladimir Putin persönlich.
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