Wer Wladimir Putin stürzen will, darf auf das russische Volk nicht zählen
Meinungsumfragen in Russland sagen aus, dass eine große Mehrheit Putin stützt. Aber selbst wenn es anders wäre, würde sich in Russland wenig ändern.

Wer sich dieser Tage ein Bild davon machen will, wie die russische Bevölkerung auf den Krieg gegen die Ukraine blickt, muss damit rechnen, dabei heftige Schwindelgefühle zu bekommen. Je nachdem, welches Medium er zu Rate zieht, je nachdem, wen dieses Medium interviewt und welchem russischen Experten es glaubt, kommt er dann zu dem Schluss, dass über 80 Prozent der Russen den Krieg unterstützen, dass sie gegen den Krieg sind, das aber bei Umfragen nicht zu sagen wagen, oder dass sie blind ihrer eigenen Regierung folgen und das wiederholen, was diese hören will, auch wenn vor ihnen ein unabhängiger Interviewer sitzt.
Es kann sogar sein, dass unser Zeitungsleser erfährt, dass die Russen bei Meinungsumfragen einfach lügen, wofür es angeblich auch noch mehrere Gründe gibt: Weil sie der Regierung nicht trauen, weil sie dem Umfrageinstitut nicht trauen oder weil sie überzeugt sind, für der Staatsgewalt nicht genehme Äußerungen verfolgt zu werden.
Befragte sagen bei Umfragen nie die Wahrheit
All die Ansichten darüber, welche Ansichten die Russen angeblich haben, kranken aber an drei Missverständnissen: darüber, wie Meinungsumfragen und Meinungsbildung in autoritären Staaten ohne Meinungsvielfalt funktionieren und darüber, worin eigentlich jene angebliche Wahrheit besteht, die Befragte bei Meinungsumfragen von sich geben.
Der letzte Aspekt ist relativ einfach: Befragte sagen bei Umfragen nie die Wahrheit. Sie lügen allerdings auch nicht. Sie sagen, was sie wollen, in Diktaturen genauso wie in Demokratien. Nichts, was in Umfragen zu Protokoll gegeben wird, ist völlig unabhängig von den Umständen.
Manchmal passen Befragte ihre Meinung an das an, was sie glauben, was der Interviewer hören will, manchmal passen sie es an das an, was sie für gesellschaftlich akzeptabel halten, und manchmal antworten sie so, dass das Interview möglichst schnell zu Ende ist, auch wenn sie dafür von dem abweichen müssen, was sie sonst eigentlich sagen würden.
Und natürlich spielt auch immer die Art und Weise eine Rolle, wie die Fragen gestellt werden: Es ist leichter, für als gegen etwas zu sein. Die Behauptung, „die Russen“ würden bei Umfragen lügen, ist also weder richtig noch falsch. Sie ist bei der Interpretation von Umfragen schlicht irrelevant, nicht zuletzt deshalb, weil es weder eine Möglichkeit gibt, Befragte dazu zu bringen, „die Wahrheit“ zu sagen, noch herauszufinden, wie viele Befragte bei einer Umfrage gelogen und wie viele „die Wahrheit“ gesagt haben. Das geht weder in pluralistischen Demokratien noch in Diktaturen mit Medienzensur.
Die Gesellschaft ist nicht die Summe der Einzelpersonen
Das zweite Missverständnis beruht auf dem Gleichsetzen von individuellen und kollektiven Entscheidungen. Es wird befeuert von unscharfen Begriffen in den Medien wie „Wählerwille“ und „kollektives Gedächtnis“, die suggerieren, dass Veränderungen in der Gesellschaft das Ergebnis von vielen Einzelentscheidungen sind und Gesellschaft und Bürger die gleichen Gründe haben, sich in bestimmter Weise zu verhalten.
Das ist aber bei weitem nicht immer so. Nach Kriegen und Krisen steigt in vielen Gesellschaften die Geburtenrate an, während sie in Zeichen dauerhaften Wohlstandes sinkt. Demographie spielt allerdings bei der individuellen Entscheidung für oder gegen die Zeugung und Geburt eines Kindes praktisch keine Rolle. In Krisenzeiten werden Gesellschaften intoleranter; selbst wenn Widerspruch und Dissens nicht staatlich unterdrückt werden, so wächst doch der soziale Druck auf Abweichler, sich der Mehrheitsmeinung anzuschließen.
Das bedeutet aber nicht, dass dadurch jeder Bürger ein wenig intoleranter wird, es ist ein gesellschaftlicher Trend, dem man sich entziehen kann. Das war in der Pandemie gut zu beobachten: Sozialer Druck sorgte dafür, dass mehr Menschen Masken trugen und sich impfen ließen, als dies ohne diesen Druck der Fall gewesen wäre. Aber kaum einer hätte wohl zugegeben, dass er sich damit dem Mehrheitsdruck unterordnete. Die Mehrheit fand, Impfen schütze, eine kleine Minderheit sprach von „Corona-Diktatur“. Beide meinten im Grunde dasselbe: Ein erhöhter Druck, sich dem anzuschließen, was Mehrheitsmeinung war.
Die Mehrheit ist immer opportunistisch
Auch in anderer Hinsicht gleichen sich die Mechanismen in Demokratien und Diktaturen – hier wie da ist die Mehrheit opportunistisch. Die meisten Menschen passen ihre Meinungsäußerung dem an, was sie für die Mehrheitsmeinung halten. Das mag überraschend klingen, leuchtet aber sofort ein, wenn man es umkehrt: Können wir uns eine Gesellschaft vorstellen, in der die Mehrheit eine abweichende Meinung hat?
Kaum, denn ihre Mitglieder wüssten ja bei der Meinungsbildung gar nicht, wovon sie abweichen sollen. Ganz gleich aber, ob man nun Opportunist ist und sich der Mehrheit anschließen will oder ob man zur Minderheit der Nonkonformisten zählt, so muss man wissen, was die Mehrheitsmeinung ist. Und hier ist der größte Unterschied zwischen pluralistischer Demokratie und autoritärer Zensur.
In einer Demokratie kann jeder relativ einfach herausfinden, was die Mehrheit zu einem bestimmten Thema denkt. Elisabeth Noelle-Neumann, die Nestorin der deutschen Meinungsforschung, fand sogar, wir hätten eine Art „soziale Haut“, mit deren Hilfe wir intuitiv erfassen, was Mainstream ist und was nicht.
Wie funktioniert „pluralistic ignorance“?
Mag sein, wenn wir aber auf Nummer sicher gehen wollen, konsumieren wir Medien und lesen die Ergebnisse von Meinungsumfragen, dann wissen wir es. Das ist der Moment, in dem Meinungsumfragen nicht nur Meinungen messen, sondern zugleich machen, jedenfalls, wenn die Ergebnisse veröffentlicht werden und sich die Menschen dafür interessieren und sie für glaubwürdig halten.
Hier haben wir das dritte Missverständnis bei der Frage, wie glaubwürdig russische Meinungsumfragen zum Krieg gegen die Ukraine sind: In einer Diktatur ist es einfacher, den Anschein zu erwecken, dass die Mehrheit etwas anderes denkt, als sie selbst glaubt. Meinungsforscher nennen das „pluralistic ignorance“ – die Gesellschaft befindet sich im Irrtum darüber, wofür die Mehrheit ihrer Mitglieder steht. Das ist ein weiteres Phänomen, das es nur auf der kollektiven Ebene gibt: Schwer vorstellbar, dass eine Einzelperson nicht weiß, welche Meinung sie hat.
Ein Irrtum mit weitreichenden Folgen
Dieser Irrtum kann weitreichende Folgen haben, ganz egal, ob er von einem Diktator bewusst ausgelöst wird oder in einer pluralistischen Demokratie gewissermaßen als Arbeitsunfall entsteht. Und er kann sich sogar gegen den Diktator wenden.
Sowohl in den kommunistischen Staaten Osteuropas als auch im sozialistischen Jugoslawien und in China gab es Meinungsumfragen, die die Mehrheitsmeinung feststellen und den Herrschenden signalisieren sollten, wann es für sie gefährlich wird, wenn die Unzufriedenheit im Volk wächst, wenn sich Protest regt und bei wem.
Fast alle kommunistischen Diktaturen haben insgeheim solche Umfragen als eine Art Frühwarnsystem gegen Aufruhr gemacht (die DDR war da eine Ausnahme) – und meist haben sie die Ergebnisse geheim gehalten. Umfragen wurden so zu Herrschaftswissen, und die Bevölkerung konnte sie nicht heranziehen, um festzustellen, was nun Mainstream war: für oder gegen die Regierung zu sein.
Wenn aber alle Zeitungen, Fernseh- und Radiosender für die Regierung waren, dann wurde dadurch der Eindruck erweckt, als sei die Mehrheit für die Regierung. Und die Mehrheit der Opportunisten hat sich dem angeschlossen in der fälschlichen Überzeugung, die Regierung vertrete die Mehrheit.
Seit Kriegsausbruch stieg die Unterstützung für Putin drastisch
Auch das ist kein Mechanismus, der nur in Diktaturen funktioniert. In den sechziger Jahren erweckten starke, weit verbreitete Meinungsmedien den Eindruck, Willy Brandts Ostpolitik und die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze seien Mainstream. Mit der Zeit schlossen sich die Opportunisten unter den Bürgern dieser Meinung an, in der falschen Überzeugung, die Meinung der Medien spiegele die der Bevölkerung wider. Dadurch entstand erst jene neue Mehrheit, dank derer Brandt dann seine Ostpolitik machen konnte.
Natürlich hat Brandt diese neue Meinung nicht selbst gemacht, sie entstand dadurch, dass die führenden Meinungsmedien damals seine Politik unterstützten und es außerhalb der Medien viel weniger Möglichkeiten gab als heute, sich eine Meinung zu bilden. Die russische Staatsmacht dagegen versucht das seit Monaten, ja Jahren zentral zu steuern: Sie lanciert entsprechende Umfrageergebnisse, macht Medienkampagnen, unterdrückt Dissens, kriminalisiert sogar einzelne Begriffe und organisiert Massenveranstaltungen zu ihrer Unterstützung, die den unentschlossenen, apolitischen Bürgern suggerieren: Alle stehen hinter Putin, Putin repräsentiert die Mehrheitsmeinung.
Wie die Umfragen des Levada-Zentrums zeigen, gelingt das: Seit Kriegsausbruch stieg die Unterstützung für Putin drastisch an und liegt nun bei über 80 Prozent. Das lässt sich weder mit Hinweisen darauf, dass „Russen bei Umfragen lügen“, noch damit wegdiskutieren, dass sie eingeschüchtert sind. Gegen Letzteres spricht, dass bei den Lewada-Umfragen 30 Prozent immer noch Sympathie für die Ukraine deklarieren und die Unterstützung für die Regierung (nicht aber für Putin und die „Spezialoperation“) seit Februar in den Keller sackte.
Wie Schweigespiralen funktionieren und warum sie Putin helfen
Angst vor unangenehmen Antworten oder Furcht vor Repressalien für eine „falsche“ Antwort bei Umfragen spiegeln sich in der Regel auch in einem hohen Anteil von ausweichenden und verweigerten Antworten nieder. Deren Anteil liegt bei Lewada aber bei 1 bis 2 Prozent. Und Lewada kann man – anders als staatlichen Umfrageinstituten – nicht so einfach Fälschung oder Manipulation vorwerfen. Das Lewada-Zentrum ist von der Regierung unabhängig, hat eine hohe internationale Reputation und fällt unter das Gesetz gegen „ausländische Agenten“.
Hier – beim geringen Anteil ausweichender Antworten – liegt des Pudels Kern, nicht in den hohen Zustimmungswerten für Putin und seinen Krieg. Die Zahlen zeigen, dass es Putin gelungen ist, eine sich immer schneller drehende Schweigespirale auszulösen: Diejenigen, die (möglicherweise fälschlich) davon überzeugt sind, in der Minderheit zu sein, ziehen sich aus der Debatte zurück und passen sich an, weil sie nicht mehr glauben, noch etwas ausrichten zu können.
Das ist der Grund, warum die Staatsmacht selbst kleine, unabhängige Initiativen verfolgt und verbietet, die sich weder an Wahlen beteiligt haben noch den Behörden irgendwie gefährlich oder unangenehm werden können. In Demokratien sind Schweigespiralen ein Element beim Entstehen neuer Mehrheiten. In Diktaturen sorgen sie dafür, dass keiner mehr weiß, wofür die Mehrheit steht und der Eindruck entsteht, „Widerstand ist zwecklos“, ja, sogar seine Meinung in Umfragen zu sagen, sei sinnlos. Diese Wirkung kann allerdings auch nach hinten losgehen.
Die Schweigespirale schlägt zurück
In Polen schafften es in den achtziger Jahren 20 Prozent der Bevölkerung durch ihr Engagement und ihren Aktivismus trotz staatlicher Zensur und mangelndem Medienpluralismus den Eindruck zu erwecken, das ganze Land sei gegen die kommunistische Regierung. Sie protestierten, diskutierten, demonstrierten – oder erweckten einfach in privaten Gesprächen den Eindruck, dass bestimmte Ansichten Allgemeingut und andere total verpönt seien.
In Wirklichkeit waren knapp 80 Prozent unentschieden, doch weil immer mehr von ihnen glaubten, es sei Mainstream, über die Regierung herzuziehen, verlor die Regierung, als sie die Wahlen von 1989 organisierte, diese krachend. Ohne Zugang zu den Ergebnissen von Meinungsumfragen passten die Bürger ihr Umfrageverhalten dem an, was sie aufgrund ihres (einseitigen) Medienkonsums für die Mehrheitsmeinung hielten, obwohl diese inzwischen viel radikaler geworden war, als sich das in den (zensierten) Medien widerspiegelte. Und die Regierung unterschätzte das Protestpotential in der Bevölkerung, weil sie glaubte, Umfrageergebnisse genauso interpretieren zu können, als wären sie in einer Demokratie zustande gekommen.
In Russland gibt es keine oppositionellen Institutionen mehr
Theoretisch kann das auch in Russland geschehen, allerdings fehlt es dort inzwischen an den Institutionen, die es in den achtziger Jahren in Polen (und zum Teil auch in der Tschechoslowakei, Ungarn und selbst der DDR) gab und die kollektive Entscheidungen fällen konnten: unabhängige Gewerkschaften, Bürgerinitiativen, eine von der Staatsmacht unabhängige Kirche, ja selbst völlig apolitische Kulturvereine und Sportclubs spielen dabei eine Rolle.
Mobilisieren kann in Russland zurzeit nur noch die Staatsmacht. Alle, die wenigstens in begrenztem Rahmen noch Bürger organisieren und mobilisieren konnten, sitzen entweder im Gefängnis oder sind emigriert. Das hat Putin offenbar von seinem belarussischen Kollegen Aleksander Lukaschenko gelernt, der diese Strategie seit Jahrzehnten anwendet.
Dort hat sich 2020 gezeigt, dass selbst die Fähigkeit der Opposition, kollektive Entscheidungen zu fällen, nicht ausreicht. Es braucht Institutionen, die imstande sind, sich dauerhaft um Opfer und Verfolgte von Repressionen zu kümmern, weil sonst kein Bürger Veranlassung hat, durch Protest und Opposition den Verlust von Arbeitsplatz, Einkommen und Freiheit zu riskieren. Diese Institutionen gab es im Polen der achtziger Jahre, in den baltischen Staaten während der Perestrojka, in Belarus 2020 gab es sie nicht. Und in Russland gibt es sie heute nicht mehr.
Es ist unwahrscheinlich, dass es in Russland zu Protest kommt
Daher ist auch die Frage, ob „die Russen“ hinter Putin stehen, irrelevant geworden. Selbst wenn sie es nicht tun, ist die Konsequenz so, als würden sie es tun: Protest bleibt aus, Putin regiert weiter, der Krieg wird fortgeführt.
Daraus ergeben sich zwei wichtige Schlussfolgerungen: Zum einen ist es äußerst unwahrscheinlich, dass breit angelegte Sanktionen, die die Masse der Bevölkerung treffen, zu Massenprotesten und einem Machtwechsel führen werden. Niemand kann sie organisieren, und spontane Proteste gibt es in solchen Situationen erst, wenn Hungerrevolten ausbrechen, wie während der Pandemie in manchen Ländern Afrikas. Russland ist in punkto Lebensmittel nicht nur autark, sondern beraubt zurzeit auch die Ukraine ihrer Getreidevorräte.
Durch Zugang zum Internet wird man nicht unbedingt kritischer
Die zweite Konsequenz ist moralischer Art. Die Lewada-Umfragen zeigen auch, dass die Unterstützung für Putin und seinen Krieg bei der Jugend wesentlich geringer ist als in älteren Kohorten von Befragten, was damit zusammenhängt, dass die Gruppe der 18- bis 30-Jährigen viel mehr Informationen über das Internet bezieht und mit Hilfe von VPN-Verbindungen die Internetzensur umgeht.
Mit anderen Worten: Russische Bürger haben die Möglichkeit, sich unabhängig von den gleichgeschalteten Medien zu informieren, sie tun es aber nicht. Manche konstruieren daraus eine Art russische Kollektivschuld. Das Problem damit ist nur, dass sich, würden alle Bevölkerungsgruppen ins Internet ausweichen und sich ein eigenes Bild machen, dadurch real nichts verändern würde.
Denn das müsste nicht unbedingt dazu führen, dass ihre Einstellung zu Regierung und Krieg kritischer wird. Wir haben in der Pandemie gesehen, dass sich viele Bürger in pluralistischen Demokratien aus beliebig zusammengesammelten Informations- und Propagandafetzen ein Weltbild zusammensetzen können, das ihnen jeden Tag bestätigt, dass sie recht haben und sich weiter so verhalten können, wie sie es ohnehin beschlossen haben. Durch Zugang zum Internet wird man nicht unbedingt kritischer.
Wie man sich der Diktatur schließlich hingibt
Ist die Diskrepanz zwischen dem, was man als richtig erkannt hat, und dem Preis, den man dafür zahlen muss, dass man sich danach verhält, zu groß, sind die meisten Leute – in Diktaturen und Demokratien – eher bereit, ihre Meinung als ihr Verhalten zu ändern. Mit anderen Worten: Wenn ich an Putins Herrschaft ohnehin nichts verändern kann, fange ich an, mich damit abzufinden.
Die volkstümliche Beschreibung dieses Phänomens verdanken wir dem letzten Satz in George Orwells „1984“: Überzeugt von der Aussichtslosigkeit jeglichen Widerstands beschließt die Hauptperson, den Diktator Big Brother nicht nur zu respektieren und sich ihm unterzuordnen, sondern ihn zu lieben. Psychologen würden sagen, er reduziert damit den Stress, der durch die Diskrepanz entsteht zwischen dem, was er für richtig hält und dem, was er tun müsste, indem er einfach das, was er tun will, fortan für richtig hält.
So entsteht dann der Mythos vom guten Zaren, der für das Unbill des russischen Alltags nicht verantwortlich ist, weil er von bösen Bojaren abgeschirmt wird, die ihn manipulieren. In den vierziger Jahren in Deutschland hieß das dann: „Wenn der Führer das wüsste.“
Der Spielball liegt bei der Elite Russlands
Doch selbst wenn russische Bürger beginnen würden, sich unabhängig zu informieren und danach zu handeln – die rechtlichen und institutionellen Barrieren für Dissens und Protest würde das nicht beseitigen. Auch wenn „die Russen“ ab morgen plötzlich beginnen, den Krieg und Putins Herrschaft abzulehnen, folgt daraus nichts.
Angesichts der Zensur und gleichgeschalteter Medien würden sie vermutlich nicht einmal erfahren, dass sich die Mehrheitsmeinung dazu geändert hat. Und selbst wenn sie es erfahren, so fehlen ihnen die Möglichkeiten, sich zu organisieren und außerhalb der staatlichen Einrichtungen kollektive Entscheidungen zu fällen. Politische Veränderungen wird es in Russland also weder durch „das russische Volk“ noch „die russische Gesellschaft“ oder eine Graswurzel-Opposition geben, sondern wenn überhaupt dann als Palastrevolte, als Intrige im Machtapparat.
Was auch bedeutet, dass die moralische Verantwortung für Krieg und Diktatur (und deren Beendigung) nur bei denen liegen kann, die auch die Möglichkeit haben, etwas zu verändern. Das sind weder die atomisierten, desorientierten, resignierten Bürger noch die Hurrapatrioten, die (zu 51 Prozent nach Lewada) wegen des Kriegs stolz auf ihr Land sind (und damit in die Fußstapfen von Orwells Hauptperson treten), sondern vor allem diejenigen in der Machtelite, die die Mittel und Wege haben, etwas zu verändern, es aber nicht tun.
Klaus Bachmann ist Professor für Sozialwissenschaften an der SWPS Universität Warschau.
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