Wie die Flüchtlingskrise Deutschland verändert

Berlin - Keine Frage: Wenn es einen Begriff gibt, der für das ausklingende Jahr steht, dann ist es „Flüchtlinge“. Die Flüchtlinge haben die Gesellschaft aufgewühlt, wurden zum Wort des Jahres, zum Motiv des Fotos des Jahres, waren Grund für die Kür der deutschen Kanzlerin zur Person des Jahres.

Kein Rückblick auf 2015 kommt aus ohne Bilder von Notunterkünften, Anti-Asyl-Demos und Willkommensfesten. Das ganze Jahr scheint geprägt von jenem 5. September 2015, als Angela Merkel für einen Tag und ein paar Tausend Flüchtlinge in Not die Grenze öffnete – und die „Flüchtlingskrise“ Deutschland erreichte. So empfinden wir es heute. Doch da trügt unsere Erinnerung.

Denn der Bundespräsident könnte in seiner diesjährigen Weihnachtsansprache zwar betonen, es sei „ein deutliches Zeichen für die Menschlichkeit in unserer Gesellschaft“, dass „wir Bedrohten Frieden und Verfolgten Schutz bieten“. Doch da würde Joachim Gauck sich wiederholen: Er sprach darüber schon in seiner Ansprache 2014. „Es ist selbstverständlich, dass wir Menschen aufnehmen, die bei uns Zuflucht suchen“, sagte auch die Kanzlerin in ihrer Neujahrsansprache – vor einem Jahr.

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Warum hatten wir das nicht mehr im Ohr? In den Rückblicken auf 2014 waren die einzigen prominent erwähnten Flüchtlinge die Jesiden, die vor dem IS flohen. Sprachen wir nicht über die Asylsuchenden, die schon nach Deutschland kamen? Oder anders als heute? Wenn die Spitzen des Staates sie in so zentralen Reden erwähnten, warum kommt es uns vor, als überrollte uns das Thema 2015?

Leid der Flüchtlinge blieb ohne Reaktion der Politik

Darauf gibt es viele Antworten. Die naheliegenden sind die Entfernungen und Zahlen: Die Jesiden waren weit weg, auf EU-Ebene ignorierte auch die deutsche Regierung seit Jahren die Hilferufe aus Griechenland und Italien, die mit den Tausenden Nordafrikanern an den Außengrenzen überfordert waren.

In den deutschen Medien war das Wort „Flüchtlingskrise“ schon 2011 aufgetaucht: für Syrien, Griechenland, Italien. Der Wiener Politologe Peter A. Ulram schrieb da bereits: „Die Entwicklungen in der arabischen Welt werden die EU noch vor gewaltige Herausforderungen stellen.“ Ohne Echo.

Als Papst Franziskus 2013 auf der italienischen Insel Lampedusa auf das Leid der Bootsflüchtlinge aufmerksam gemacht hatte, war viel berichtet worden – und wenig getan. Als der Bundespräsident in seiner Weihnachtsansprache 2013 über Flüchtlinge sprach, verband man damit noch die Menschen im Mittelmeer. „Tun wir wirklich schon alles, was wir tun könnten?“, fragte Gauck.

In Berlin spitzte sich der Konflikt um eine Gruppe aus Italien weitergeschickter Afrikaner zu, die in Kreuzberg Lager errichteten. Kaum jemand erkannte das als Vorboten einer Krise in Deutschland. Erst im Herbst 2014 berichteten die Medien groß, dass die Zahl der Asylsuchenden sprunghaft anstieg: Von 77.000 Flüchtlingen in 2012 auf bereits 127.000 im Jahr 2013, für 2014 rechnete das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) mit 200.000. Als Ursache galt bereits die Lage in Afghanistan, Irak und Syrien.

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