Personalmangel: So groß ist das Chaos in Berliner Kindergärten
Der Arbeitskräftemangel lastet auf den Kindergärten der Hauptstadt. Die Berliner Zeitung hat bei Erziehern und Trägern nachgefragt, was sie sich von der Politik wünschen.

In Berlins Kindergärten herrscht Chaos: Laut Bertelsmann-Stiftung fehlen in der Hauptstadt 17.000 Kitaplätze. Allerdings würden mehr Einrichtungen und Räume allein das Problem nicht lösen, sagt Lars Békési, Geschäftsführer des Verbands der Kleinen und Mittelgroßen Kitaträger (VKMK): „Wir können weiter schöne Immobilien bauen. Wenn wir aber keine Pädagogen haben, bringt uns das nichts.“
In Berlin leiden alle Kita-Modelle unter Fachkräftemangel: Ob trägergeführt (1221 Einrichtungen), privat (7) oder landeseigen (5) – bis 2030 könnten laut Bertelsmann-Stiftung bis zu 8500 pädagogische Beschäftigte in den Kitas der Hauptstadt fehlen.
Nur ein Drittel der Auszubildenden arbeitet später in einer Kita
„Es gibt nicht nur einen Fachkräfte-, sondern mittlerweile einen Arbeitskräftemangel“, sagt Békési. Dafür gebe es gleich mehrere Ursachen: Dass die Generation der sogenannten Babyboomer den Arbeitsmarkt verlasse, sei der offensichtlichste Grund. Ein weiterer sei, dass von den Auszubildenden später nur ein Drittel in einer Kindertagesstätte arbeitet.
Laut Békési stellt die Berliner Landespolitik das Personal unsauber dar: Statistiken über die Ausbildungszahl in der Kita-Branche seien nicht realistisch. Die Anzahl der Auszubildenen allein sei nicht aussagekräftig. Von ungefähr 3000 Menschen, die in Berlin jährlich als Erzieher ausgebildet werden, arbeiten nach der dreijährigen Ausbildung nur noch 1000 in der frühkindlichen Bildung, so Békési. Die anderen zwei Drittel haben die Ausbildung entweder abgebrochen, sind in ein anderes Bundesland gegangen oder arbeiten beispielsweise im Hort.
Ein weiterer Grund für den Fachkräftemangel sieht der VKMK-Geschäftsführer in den Erwartungen der nachrückenden Generationen: Die Work-Life-Balance stehe im Fokus, eine 40-Stunden-Woche, Früh- oder Spätdienste seien von vielen Bewerbern nicht mehr gewollt. Hinzu komme das schlechte Image des Berufs Erzieher: „Junge Menschen, die sich für dieses spannende Berufsfeld interessieren, sind aufgrund der über Jahre verbreiteten Negativität zu skeptisch“, sagt Békési.
Zusätzliche Belastung durch steigende Fluktuationszahl der Erzieher
Dorothee Thielen vom Paritätischen Kitaforum sieht den Fachkräftemangel in Kindergärten ebenfalls als großes Problem. „Das Thema ist nicht neu, sondern nahm seit 2015 seinen Anlauf und gipfelte erstmals in 2018 in der sogenannten Kita-Krise“, sagt sie. Eltern seien auf die Straße gegangen, weil sie keinen Kitaplatz finden konnten. Das liege zum einen am Fachkräftemangel. Zum anderen sieht Thielen die Verantwortung auch bei der Senatsverwaltung für Bildung: „Ich will nicht sagen, dass da nichts Gutes und Hilfreiches auf den Weg gebracht wurde, aber ich muss feststellen, dass wir nach vier Jahren einfach noch nicht weiter sind“, sagte Thielen der Berliner Zeitung.
Darüber hinaus führten die vielen Arbeitsplatzwechsel der Erzieher zu einem gefühlten Mangel. Laut Thielen wechseln 60 Prozent der Beschäftigten binnen fünf Jahren die Einrichtung. Das führe zu mehr Belastung für die Erzieher. „Die Kollegen kommen und gehen, und man weiß an manchen Tagen nicht mehr, mit wem man morgen zusammenarbeitet – das ist keine gute Situation“, so Thielen.
Qualitätsmangel durch SPD-Politik?
Im August 2018 beschloss der Senat, dass Eltern in Berlin für Kindertagesstätten und Kindertagespflege keine Gebühren mehr zahlen müssen. Lediglich 23 Euro fallen weiterhin monatlich für das Mittagessen an. Die Finanzierung sei 2016 ein Wahlgeschenk der SPD zur Abgeordnetenhauswahl gewesen, sagt Lars Békési. „Dieses Geschenk ist teuer und uns allen auf die Füße gefallen.“ Der kostenlose Kitaplatz habe zu keinerlei Qualitätsverbesserung geführt. Eine qualifiziertere Betreuung erreiche man dadurch keinesfalls – es fehlten schlichtweg die Pädagogen.
Das Wahlversprechen der SPD von 2016 gehe in die falsche Richtung, sagt Békési. 60 Millionen Euro gingen dem Kitasystem dadurch jährlich verloren. Diese Kosten trage nun der Steuerzahler. Der Verbandsgeschäftsführer ist sich sicher, dass die Diskussion über eine erneute Beitragseinführung nach der Wiederholungswahl am 12. Februar wieder aufkommen wird. „Die Haushalte, die diese Gebühren über Steuern finanzieren, können das nicht mehr tragen“, sagt er.
Auch der Dachverband Berliner Kinder- und Schülerläden (DaKS) sieht die Abschaffung der Kitagebühren kritisch. Grund dafür sei nicht die Angst vor einer zu stark steigenden Nachfrage, sondern das fehlende Geld für Qualitätsverbesserung in den Kitas, sagt Roland Kern vom DaKS. Der Verband würde eine Vereinfachung der Gebührentabelle mit Befreiung für untere Einkommensgruppen befürworten. Das sei eine Frage der Priorität.
Ein Betreuungsschlüssel, der in der Realität nicht existiert
Auch der Betreuungsschlüssel sei ein Problem, sagt Thielen. Der Schlüssel gibt an, wie viele Kinder eine Erzieherin betreuen darf. Je nach Alter und Betreuungsumfang der Kinder fällt die Zahl sehr unterschiedlich aus. Nachgelesen werden kann der Schlüssel im Berliner Kitagesetz (KitaFöG).
In Berlin hat der Betreuungsschlüssel bei Kindern ab drei Jahren ein Verhältnis von 1:9, so Dorothee Thielen vom Paritätischen Kitaforum. Das bedeutet, dass ein Erzieher neun Kinder betreuen soll. Dies ist laut Thielen zwar machbar, jedoch blieben Krankheits-, Urlaubs- und Fortbildungstage der Erzieher unberücksichtigt. Das Verhältnis sei in diesen Fällen keinesfalls umsetzbar. Auch Lars Békési sagt: „Wenn das Personal fehlt, dann haben wir auf dem Papier einen Betreuungsschlüssel, der in der Realität überhaupt nicht existiert.“
Der Personalschlüssel berechnet sich anhand der Stunden laut Arbeitsvertrag. Für eine praktische „Fachkraft-Kind-Relation“ müssten eigentlich Zeiten für die sogenannte mittelbare pädagogische Arbeit abgezogen werden. Laut Kern vom DaKS zählen dazu unter anderem Teamsitzungen, Elterngespräche, Vor- und Nachbereitung pädagogischer Projekte sowie die Abwesenheit infolge von Urlaub und Krankheit. „Diese Zeiten, die nicht für die Arbeit mit den Kindern zur Verfügung stehen, summieren sich schnell auf bis zu 40 Prozent der vertraglichen Arbeitszeit“, sagt Kern.
Wie sieht es vor Ort in den Kindergärten aus? Ihr Kindergarten sei auf dem Papier zwar optimal besetzt, sagt die Leiterin der Kita Kinderparadies Neukölln. Falle jedoch spontan jemand aus, könne es schnell dazu kommen, dass eine Erzieherin mit 16 Kindern allein ist. „Es wurde beim Personalschlüssel nicht bedacht, dass Menschen auch mal krank werden können“, sagt sie. Diesen Winter sei es katastrophal. Hinzu komme, dass sich der Personalschlüssel auf den Monat beziehe – und nicht auf den Tag. Das erschwere es, kurzfristige Ausfälle zu berücksichtigen.
Die Lösung liegt nahe
Die Kita Kinderparadies Neukölln ist trägergeführt und gehört zur Initiative für Bildung und Erziehung Berlin (IBEB). Auf Knopfdruck könne man zwar keine Erzieher finden, der Träger habe aber schon vor fünf Jahren begonnen, das Fachkräfteproblem anzugehen, sagt die Leiterin der Kita. Die Lösung: Auszubildende. „Wir haben Personal gefunden, indem wir in erster Linie unsere Einrichtung mit Auszubildenden ausstatten.“
Dreimal pro Woche seien sie in der Einrichtung, an den anderen Tagen besuchten sie die Schule. Das müsse man in Kauf nehmen. Nach der dreijährigen Ausbildung bleibe der Großteil der frischgebackenen Erzieher in der Einrichtung. Das sei Ziel des Trägers gewesen. Die Bewerbungsrate für einen Ausbildungsplatz sei außerdem sehr hoch.
Genauso sieht es aber bei Bewerbungen um einen Kitaplatz aus: „Pro Woche bewerben sich fünf bis zehn Kinder“, sagt die Leiterin. Pro Jahr könne sie aber insgesamt nur zehn neue Kinder aufnehmen.
Thielen wünscht sich mehr Quereinstiege mit berufsbegleitender Fortbildung. Außerdem arbeiten die Träger an einem Bonusprogramm für die Erzieher, die immer vor Ort sind. Dafür werde aber die Unterstützung des Landes Berlin benötigt. Der Beruf Erzieher müsse wieder attraktiver werden.
„Immer nur die Negativbeispiele in der Öffentlichkeit zu diskutieren, wird keinen jungen Menschen dazu motivieren, diesen Beruf zu ergreifen“, so Thielen. Mit diesem Beruf mobilisiere man die Zukunft der Gesellschaft. „Was Erzieher machen, ist relevant für uns alle“, sagt sie.