Berlin-CDU und CSU erleben gerade stürmische Zeiten. Eigentlich kannte man solche innerparteilichen Auseinandersetzungen um Personalfragen bisher vor allem von der SPD, die darüber ihren Status als große Volkspartei auf Bundesebene verspielt hat. In der Union gab es dagegen seit Jahrzehnten immer recht unumstrittene Führungsfiguren, erst Helmut Kohl und dann Angela Merkel. Oder doch nicht? Wenn man sich an die bösen Auseinandersetzungen zwischen Merkel und dem damaligen CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer über die Flüchtlingspolitik vor fünf Jahren erinnert, sieht man schon, dass dies so einfach nicht ist. Immer wenn es ernst wurde in der deutschen Politik, zeigte sich auch, dass „die Union“ eben aus zwei Parteien besteht, aus CDU und CSU. Alle vier Jahre aber, immer zur Bundestagswahl, erreichen die beiden Parteien eine besondere Belastungsprobe ihrer Gemeinsamkeit, denn sie müssen sich auf einen Kanzlerkandidaten, eine Kanzlerkandidatin verständigen.
Interessant wurde das immer dann, wenn die CDU/CSU in der Opposition war und jemanden suchte, der den sozialdemokratischen Kanzler besiegen konnte. Besonders heftig ging es 1980 zu, als die CSU von dem vor Selbstbewusstsein strotzenden Franz-Josef Strauß geführt wurde, während die CDU mit Helmut Kohl einen Vorsitzenden besaß, der bereits die Bundestagswahl 1976 gegen Helmut Schmidt verloren hatte – obwohl er die Union mit 48,6 Prozent der Stimmen nahe an die absolute Mehrheit geführt hatte. Dennoch haftete ihm das Image des Verlierers an, das vor allem von Strauß genüsslich ausgemalt wurde. Er hatte die Auseinandersetzung mit der CDU bereits kurz nach jener Wahl fast bis zum Bruch mit der Schwesterpartei angeheizt. Im legendären Beschluss von Kreuth drohte die CSU an, die Fraktionsgemeinschaft mit der CDU zu beenden. Das Verhältnis der Vorsitzenden der beiden Parteien war nun auf einem frostigen Tiefpunkt angelangt, wie sich kurz vor der nächsten Bundestagswahl zeigte. Strauß äußerte immer wieder öffentlich Zweifel an den Führungsqualitäten Kohls und seiner Eignung zum Kanzler. Stattdessen kündigte er an, lieber selbst anzutreten. Die Stimmung zwischen beiden Parteien war nun alles andere als geschwisterlich, sondern offen kriegerisch.
Kohl zeigte in dieser Situation ein besonderes taktisches Geschick. Er verzichtete auf die Kandidatur und schlug den bundesweit noch wenig bekannten niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht vor. Wohl wissend, dass dieser bei der vereinbarten Abstimmung in der gemeinsamen Bundestagsfraktion Strauß vermutlich unterliegen würde – und dieser dann bei der Bundestagswahl. „Ehrlicherweise muss man sagen, dass zu diesem Zeitpunkt vermutlich kein Kandidat der Union, wie immer er auch hieße, eine gute Chance hatte, Helmut Schmidt aus dem Kanzleramt zu drängen“, notierte Kohl in seinen Memorien.
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Mit seinem Rückzug vermied er also auch eine eigene zweite Niederlage und überließ diese Erfahrung dem Widersacher Strauß. Mit ihm fuhr die CDU/CSU dann ein für die damaligen Zeiten verheerendes Ergebnis ein - sie büßte 4,1 Prozent der Stimmen ein und sank auf 44,5 Prozent, ihr schwächste Ergebnis seit 1949. Kohls Chance kam dann zwei Jahre später, als die sozial-liberale Koalition zerbrach und er mit einem konstruktiven Misstrauensvotum zum Kanzler gewählt wurde. Ein halbes Jahr später gewann die Union mit ihm dann auch die vorgezogene Bundestagwahl.
22 Jahre später befanden sich CDU und CSU vor der Bundestagswahl 2002 in einer ähnlichen Lage: Sie waren in der Opposition und mussten einen populären Sozialdemokraten aus dem Kanzleramt verdrängen: Gerhard Schröder. Vor allem die CDU hatte eine stürmische Phase hinter sich, nachdem Helmut Kohl in der Schwarzgeldaffäre in Ungnade gefallen und Angela Merkel den Parteivorsitz errungen hatte. Vielen in der Union galt die junge Ostdeutsche nur als Übergangslösung, bis einer der bewährten westdeutschen CDU-Ministerpräsidenten die Parteiführung übernehmen würde. Mit dem Risiko einer Wahlniederlage wollte sich davor aber keiner belasten. Allein Edmund Stoiber, der CSU-Chef und bayerische Ministerpräsident, rechnete sich Chancen aus und erklärte anzutreten. Doch das ging nur, wenn die CDU zustimmen und deren Vorsitzende auf ihren mit dem Amt verbundenen Zugriff auf die Kanzlerkandidatur verzichten würde. Dafür wollten die im „Andenpakt“ verbündeten CDU-Landesfürsten um Roland Koch und Christian Wulff sorgen.
Aber die kluge Angela Merkel durchschaute das Spiel und erinnerte sich an Kohls Taktik im Jahre 1980 – im Zweifel einen Schritt zurückzugehen, um später zu obsiegen. Während also die CDU-Granden sich am 11. Januar 2002 zu einer Vorstandsklausur in Magdeburg versammelten und auf die Vorsitzende warteten, reiste diese heimlich zum Frühstück mit Stoiber in dessen Haus in Wolfratshausen. Dort überließ sie ihm die Kanzlerkandidatur gegen die Zusage, nach der Wahl Vorsitzende der Bundestagsfraktion zu werden, womit sie mit Friedrich Merz gleich noch einen weiteren Konkurrenten aus dem Weg räumte. Außerdem vermied sie sowohl eine innerparteiliche Düpierung als auch die Wahlniederlage gegen Gerhard Schröder. Beides hätte sie nachhaltig beschädigt. So aber konnte Angela Merkel 2005 antreten und Schröder knapp besiegen.
Ist die Lage für CDU und CSU nun, wiederum fast 20 Jahre später, ähnlich? Der große Unterschied ist, dass sie zwar regieren, ihre Kanzlerin aber nicht mehr antritt. Und die entscheidende Frage lautet: Für wen ist es klüger, erst einmal einen Schritt zurückzutreten?