Wissen das die Deutschen? Heinz Reinefarth hat über 100.000 Polen getötet, nach dem Krieg war er Bürgermeister von Sylt

Jaroslaw Kaczynski will Reparationszahlungen von Deutschland. Viele regen sich auf. Doch ein Kern Wahrheit steckt in seiner Botschaft.

Deutsche SS-Männer in der Nowolipie-Straße im Warschauer Ghetto
Deutsche SS-Männer in der Nowolipie-Straße im Warschauer Ghettoimago/Reinhard Schultz

Eines muss man Jaroslaw Kaczynski lassen: Er wird nicht müde zu betonen (und zugleich daran zu erinnern), welches Leid die deutsche Nazi-Besatzung den Polen angetan hat. Im deutschen Kulturgedächtnis spielt der Holocaust eine große Rolle, auch der Überfall auf Polen am 1. September 1939. Dafür ist die Erinnerung an die Zerstörung Warschaus schon viel geringer, ebenso an die „Aktion Reinhardt“ oder auch an die Rolle von Heinz Reinefarth, des Hauptsturmführers der SS, der in Warschau die Einsatzgruppe Reinefarth leitete und maßgeblich dafür verantwortlich war, den Warschauer Aufstand niederzuschlagen.

Sein Spitzname: „Mörder von Warschau“. 100.000 polnische Aufständische und Zivilisten wurden unter seinem Befehl getötet. Was ebenfalls zum dunklen Teil der deutschen Geschichte gehört: Reinefarth wurde nie nach Polen ausgeliefert, nie verurteilt. Stattdessen machte er in Deutschland Karriere: Von 1951 bis 1964 war er Bürgermeister von Sylt. Später wurde er zum Landtagsabgeordneten gewählt. Erst 2014 stellte man sich auf der Insel seinen Kriegsverbrechen, dem Mord an über 100.000 Menschen. 

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Jaroslaw Kaczynski hat historisch gesehen recht

Eine ähnliche Geschichte könnte man auch über die Zerstörung von Warschau erzählen. Wer heute durch die Stadt läuft, sieht eine Metropole, der es gelungen ist, die Narben und Wunden durch das Wüten der Nationalsozialisten zu kaschieren und eine neue Identität nach dem Wiederaufbau zu finden. Man muss wissen: Ein Großteil Warschaus wurde während des Kriegs zerstört. Im Januar 1945 waren rund 85 Prozent der Gebäude zerstört: zehn Prozent infolge des deutschen Überfalls auf Polen von 1939 und anderer Kampfhandlungen, 15 Prozent infolge des Aufstandes im Warschauer Ghetto, 25 Prozent nach dem Warschauer Aufstand und 35 Prozent infolge systematischer deutscher Zerstörungsaktionen nach dem Aufstand, also aus Rache.  

Marsch zum Verladebahnhof
Marsch zum Verladebahnhofimago/Reinhard Schultz

Wenn jetzt Jaroslaw Kaczynski sich hinstellt, nach Reparationen ruft und sie auf 1,3 Billionen Euro schätzt, dann spricht er eine unangenehme Wahrheit aus: Die polnischen Kriegsschäden wurden nie richtig entschädigt, nie vollständig gesühnt. Die Volksrepublik Polen verzichtete nach dem Krieg auf Entschädigungen, auf Druck der Sowjetunion, weil allein Moskau die deutschen Reparationszahlungen kassieren wollte.

Gerhard Schröder setzte sich nach der Wende immerhin dafür ein, polnische Zwangsarbeiter, die bis dahin überlebt hatten, zu entschädigen. Auch meine Großeltern gehörten dazu. Meine eine Großmutter musste in einer Patronenfabrik in Braunschweig arbeiten (an ihrem Körper wurden außerdem Experimente durchgeführt), meine andere Großmutter arbeitete für eine Wehrmacht-Familie in den Masuren als Dienstmädchen. Wenn Kaczynski auf den Umstand hinweist, dass deutsche Reparationen an die Polen nicht hoch genug waren, dann hat er historisch gesehen recht.

Bundeskanzler Olaf Scholz hat anderes zu tun

Doch das eine ist Geschichte. Alles Weitere ist Politik. Denn wer Reparationszahlungen fordert, der muss die juristischen Voraussetzungen kennen und auch verstehen, was solche Forderungen implizieren. Nämlich, so hat es auch der Politologe Klaus Bachmann in der Berliner Zeitung geschrieben, dass die Beschlüsse der Potsdamer Konferenz von 1945 mit Reparationsforderungen ebenso neu zur Debatte stünden (weil Polen sie ja nicht als souveräner Staat ausgehandelt hat, sondern vertreten durch Stalin, unter dem Joch der Kommunisten). Daher müsste man auch die Grenzen Polens neu verhandeln, die Ostgebiete etwa. Das ist nicht im Interesse der Polen. Insofern kann die polnische Regierung nur mit einer sehr wackeligen Taktik die Reparationszahlungen einfordern: einerseits behaupten, bei der Potsdamer Konferenz wurde Polen souverän vertreten, bei den Verhandlungen von Reparationen 1953 aber eben nicht mehr. 

Jaroslaw Kaczynski
Jaroslaw Kaczynski/imagoZUMA Wire

Wer das versteht, wird schnell merken, dass es sich bei Kaczynskis Reparationsforderungen um reine Innenpolitik handelt. Dass er offiziell die Deutschen dazu zwingen möchte, das Geld zu zahlen, ist eher ausgeschlossen. Vielmehr will er seinen Wählern zeigen, dass er die Erinnerung an die polnischen Opfer nicht außer Acht lässt und dass er sich wie kein Zweiter für die Interessen Polens einsetzt. Außerdem sind außenpolitische Manöver immer sehr gutes Marketing für Regierungen, die innenpolitisch gelähmt sind (und von Problemen ablenken möchten).

Nächstes Jahr sind in Polen Wahlen. Die polnische Regierung steckt in einer Dauerkrise. Kein Wunder also, dass Jaroslaw Kaczynski die Forderung nach Reparationen ausgerechnet jetzt aus dem Hut zaubert. Er will seine Stammwähler begeistern. Seine Forderungen sind unrealistisch und bedienen antideutsche Ressentiments. Aber mit einem hat er recht: Die Deutschen könnten sich in Polen mehr engagieren, mehr in Erinnerungskultur investieren. Dass es aber dazu kommt, ist eher unwahrscheinlich. Denn: Bundeskanzler Olaf Scholz hat gerade ganz anderes zu tun. 

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