Warum die „Judensau“ an der Schlosskirche in Wittenberg bleiben muss
Solche Denkmäler tun immer weiter weh. Und genau das brauchen wir.
Wittenberg-Das im katholischen Hochmittelalter gefertigte Relief einer „Judensau“ bleibt an der Schlosskirche jener Stadt Wittenberg, in der einst auch Martin Luther gegen Juden hetzte. Ein grauenhaftes Werk, das mit Judenhüten gekennzeichnete Männer zeigt, wie sie intimst ein Schwein berühren.

Wer einmal davor stand, dürfte das Gefühl kennen: Weg damit. Zerschlagt es. Oder ab ins Museumsdepot damit. Eine solche Schande muss man nicht ertragen. Und wie müssen sich erst heutige Juden fühlen, wenn sie solche Verunglimpfung sehen? Da hilft auch das Erklärungsdenkmal davor von 1988 nicht.
Antijudaismus führte nicht nach Auschwitz
Trotzdem war das Urteil des Oberlandesgerichts Naumburg zu erwarten. Sonst nämlich wäre der historischen Ignoranz Tor und Türe geöffnet worden. Zwar nutzten Antisemiten seit dem 19. Jahrhundert diese und ähnliche Darstellungen immer wieder für ihre rassistische Propaganda. Angefertigt aber wurden solche Reliefs, Skulpturen und Wandgemälde seit dem 13. Jahrhundert von Feinden des religiösen Judentums. Das sind historisch durchaus relevante Unterschiede.
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Antijudaismus führte nicht nach Auschwitz, Antisemitismus sehr wohl. Die Frage bleibt: Rechtfertigt die sich wandelnde Wahrnehmungsgeschichte eines Objekts seine Demontage, möglicherweise sogar seine Vernichtung? Doch wer entscheidet bei einem solch überaus aktiven Eingriff in die Überlieferungsgeschichte, was wir ertragen müssen oder wollen?
50 Darstellungen von „Judensäuen“ erhalten
Schließlich kann alles und jedes irgendwie und irgendwann für eine Gruppe X oder ein Individuum Y als diskriminierend und damit gesellschaftlich gefährlich empfunden werden: Christen zerschlugen antike Statuen, radikale Muslime die Buddhas von Bamijan. Kämpfer für Kinderrechte wolltenb den„Siegreichen Amor“ von Caravaggio in der Berliner Gemäldegalerie abhängen. Alle aus dem Gefühl heraus, Unrecht beheben zu können.
Darstellungen von „Judensäuen“ gibt es wohl seit dem Hochmittelalter in Mitteleuropa, etwa 50 blieben an Kirchen, Rathäusern oder Privatgebäuden erhalten, die älteste im Dom von Brandenburg an der Havel. Ungezählt sind Darstellungen auf Flugblättern und Hetzschriften gerade aus der Reformationszeit, aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Sie alle sollen eine bestimmte Person oder Bevölkerungsgruppe diskreditieren, aber auch die eigenen Schäfchen durch Abgrenzung im Gatter halten.
Tod jeder Differenzierung
Das wird in den aktuellen Debatten oft übersehen: Solche Hetzzeichen – ob sie sich nun gegen Juden, Sinti, Roma, Muslime, Schwule, Arme, schwarze oder nicht-weiße Deutsche, gegen „Klassenfeinde“, Mönche, Päpste, Reformatoren, Arbeiter, Polizisten oder Politikerinnen wenden – dienen auch der Selbstbestätigung der Herrschenden, dass sie „richtig“ handeln.
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Genau diese Selbstgewissheit aber ist, egal von wem sie kommt, der Tod jeder Differenzierung, jeder Aufklärung. Auch wer noch so schandbare Denkmäler beseitigen will, ist nur selten an historischer Erkenntnis oder gar an Selbstkritik interessiert, sondern an Selbstbestätigung.
Reinigungsaktionen entlasten Nachfahren der Täter
Antijudaismus gehörte zwei Jahrtausende zum Christentum, daran ändert auch die Zerstörung der Denkmale nichts. Viel sinnvoller wäre es, ein internationales Netzwerk und eine gemeinsame Erklärungskultur zu entwickeln, die von Uppsala und Bützow über Gnesen, Pirna und Nürnberg bis nach Salzburg oder Aarschot zeigt: Solche Werke waren keine regionalen Ausnahmen, sondern die diskriminierende Regel, der allzu viele allzu lange folgten.
Es ist sicher verständlich, wenn mit solchen und ähnlichen Denkmalen Ausgegrenzte sich gegen deren Existenz wehren. Aber auch ihnen muss gesagt werden: Reinigungsaktionen entlasten aller Erfahrung nach vor allem die Nachfahren der einstigen Täter, die Mehrheitsgesellschaften.
Die „Judensau“ an der Kirche der sächsischen Fürsten und des großen Reformators Martin Luther dagegen, die Mohrenstraße mitten in der deutschen Hauptstadt, das Kolonialdenkmal in Bremen, die Universität, die nach einem brillanten Ingenieur und Lehrer benannt wurde, der eben auch Antisemit war – sie tun immer weiter weh. Und genau das brauchen wir, um vielleicht doch einmal besser zu werden als unsere Vorfahren.