Putin nach Den Haag? Keine Chance, denn Russlands Elite steht hinter Wladimir Putin
Eine angebliche Spaltung der Eliten in Russland ist Dauerthema in vielen deutschen Medienberichten. Mit der Realität vor Ort hat sie jedoch wenig zu tun. Ein Kommentar.

Der Internationale Strafgerichtshof hat Haftbefehl gegen Russlands Präsidenten Putin erlassen. Das Gericht wirft ihm vor, für die Verschleppung von ukrainischen Kindern verantwortlich zu sein. Viele beziehen sich auf Slobodan Milosevic und wünschen sich, dass Putin wie Milosevic in Den Haag vor Gericht landet, um sich zu verantworten. Doch die Situationen unterscheiden sich fundamental. Milosevic wurde von Serbien ausgeliefert. Da eine Milliarden-Aufbauhilfe für Serbien und Montenegro durch eine internationale Geberkonferenz von der Auslieferung des ehemaligen Machthabers abhing, ließ der serbische Ministerpräsident Zoran Đinđić Milošević am 1. April 2001 Milosevic festnehmen und nach Den Haag an den Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien ausliefern. Mit Putin stehen die Chancen schlecht, da es zu einem Zerfall der Elite kommen müsste. Und dies ist nicht in Sicht. Warum das so ist, erklärt dieser Text. Die Redaktion.
Eine Spaltung der russischen Eliten ist ein Wunschvorstellung vieler, die bei der Beendigung des von Russland losgetretenen Krieges in der Ukraine nicht auf baldige Verhandlungen setzen wollen.
Zu Beginn des Putin’schen Feldzugs im Nachbarland schien die Hoffnung darauf nicht utopisch. Bis in den engeren Umkreis des greisen Präsidenten schienen politische Führungskräfte überrascht von der Kriegsentscheidung, manch Lippenbekenntnis zu diesem Kurs schwammig und wenig überzeugend. Teile der Führungsmannschaft in Wissenschaft und Kultur stellten sich offen gegen den Krieg.
Doch diese Risse, die sich im System zeigten, wurden im letzten Jahr im Zuge einer totalitären Welle in Moskau ebenso eliminiert wie jede sich offen zeigende kritische Stimme aus der russischen Opposition. Dennoch geistert das Phänomen eines diagnostizierten Machtverlustes des Kreml über seine Eliten und einer Spaltung derselben bis heute regelmäßig durch die deutsche Tagespresse.
So fragt die „Frankfurter Rundschau“ etwa angesichts einer missverständlichen Äußerung der russischen Außenamtssprecherin Sacharowa, es sei in Russland ein Kampf unter den Eliten in Gang, ob Putin die Kontrolle über seine Eliten verloren habe. All das, obwohl Sacharowa zu 100 Prozent auf Regierungslinie ist.

Auch der Münchner Merkur spricht angesichts von Kritik des Trollfabrik-Chefs und Söldnerführers Jewgeni Prigoschin unter Verweis auf einen deutschen Experten sofort von einem so tiefen Graben im Kremlumfeld, dass ein „Putsch gegen Putin“ drohe.
In der Tat hat Wladimir Putin die Eliten „verstaatlicht“
Tatsächlich haben sich Hoffnungen auf eine Spaltung der russischen Eliten kaum bewahrheitet. So gestalten sich die Auswirkungen des Krieges eindeutig gegen die Interessen von Russlands Superreichen, die in Folge der Sanktionen riesige Vermögenswerte verloren haben. Waren im Forbes-Ranking der Dollar-Milliardäre 2008 noch vier Russen in der Top 20 vertreten, ist nun der reichste Russe nur noch auf Rang 87 zu finden. Wie der Politologe Wladislaw Inosemzew, Direktor des Moskauer Centers for Post-Industrial Studies, in einer Analyse feststellt, verloren die Gruppe der Superreichen durch den Krieg 54 Milliarden US-Dollar, eingefroren und beschlagnahmt sind zusätzlich zwischen 30 und 35 Milliarden.
Dennoch verhält sich die Riege des russischen Großkapitals laut Inosemzew politisch völlig passiv. Putin habe die Eliten erfolgreich „verstaatlicht“, stellt Inosemzew fest. „Jetzt ist keiner der großen Geschäftsleute bereit, Putins Politik in irgendeiner Weise zu verurteilen“, stellt der Experte abschließend fest. Von der schier unendlichen politischen Macht russischer Oligarchen zum Ende der 1990er Jahre ist nichts übrig.
Die russischen Großunternehmer tun unter den aktuellen politischen Verhältnissen in Russland auch gut daran, dem Staat in jeder Beziehung ihrer Loyalität und unumschränkte Anpassung zu versichern. Denn innerhalb der aktuellen politischen Elite in Russland reicht es zum Teil bereits aus, eine eigene vom Kriegskurs und den Kreml-Vorstellungen einer reaktionären „Russischen Welt“ abweichende Meinung zu haben und in seiner Arbeit den eigenen Überzeugungen zu folgen, auch wenn man offene Kritik am Kriegskurs vermeidet.
Unbequeme Experten werden in Russland aus dem Amt entfernt
So wurde in den letzten Tagen Andrej Kortunow, langjähriger Generaldirektor des Russischen Rates für Auswärtige Beziehungen, aus seinem Amt entfernt. Der Rat ist der wichtigste außenpolitische Thinktank des Landes, gegründet unter anderem von zwei russischen Ministerien, Kortunow galt als wichtiger Berater von Außenminister Sergei Lawrow. Als Grund für Kortunows Zurückstufung auf einen Abteilungsleiterposten gilt in der russischen Presse unter Berufung auf eine Quelle im Außenministerium die dortige Unzufriedenheit mit seiner Arbeit.
An fehlendem Fachwissen kann diese nicht liegen, Kortunow gilt als international anerkannte Kapazität in der Analyse der Geopolitik, die immer die russischen Interessen im Auge hat. Doch es ist ein offenes Geheimnis, dass Kortunow die Invasion der Ukraine als fatale Entscheidung im Sinne der russischen Interessen sieht. Diese Ablehnung äußerte sich nicht in offener Opposition dieser Grundsatzentscheidung, die schon lange im russischen Apparat nicht mehr geduldet wird, sondern in warnenden und mahnenden Analysen des tatsächlich entstandenen Eskalationspotenzials und der geopolitischen Risiken.
Schon diese Abweichung war genug Anlass, eine weltweit anerkannte Fachkraft durch seinen Programmdirektor Iwan Timofejew zu ersetzen, der als jüngerer Experte zwar ebenso weiß, welches geopolitischen Eigentor sich Russland mit seinem Feldzug schießt, aber nicht das gleiche Standing hat, fachliche Bedenken auch offen zu formulieren.
Schon potenzielle Abweichung führt zur Entfernung aus Führungspositionen
Wie im Bereich der außenpolitischen Berater verhält es sich auch in anderen Teilbereichen der gesellschaftlichen Eliten in Russland. Aus wichtigen Positionen entfernt wird jeder, der nicht stromlinienförmig in die neue, rückwärtsgewandte russische Welt passt, egal wie angesehen und kompetent er im eigenen Bereich ist. Etwa Alexander Sergejew, bis September 2022 Präsident der Russischen Akademie der Wissenschaften, der ebenfalls offene Opposition zu den Herrschenden ablehnte, aber offen über die nachteiligen Auswirkungen der russischen Kriegspolitik für die Wissenschaftswelt in der russischen Presse sprach.
Er wurde auf „extremen Verwaltungsdruck“ zu einem Verzicht auf eine Wiederwahl genötigt, was Wahlboykottaufrufe unter den Akademikern zur Folge hatte. Oder Selfira Tregulowa, die kürzlich entlassene Direktorin der Moskauer Tretjakow-Galerie, die einfach durch ihr modernes Kunstverständnis nun nicht mehr „in den Kurs der Abteilung passt“, wie eine Quelle aus dem Russischen Kulturministerium der exilrussischen Onlinezeitung Meduza verriet. So steuert die russische Elite nicht etwa auf eine Spaltung in Fraktionen zu, sondern im Gegenteil werden alle Bereiche strikt auf Linie gebracht, und schon potenzielle Abweichung führt zu einer Entfernung aus Führungspositionen.
Der Begleitsound vieler westliche Beobachter hat mit der Realität nichts zu tun
Als vorgebliche Belege für eine Fraktionsbildung im Kreis der Mächtigen Russlands werden häufig kritische Äußerungen etwa zum Verteidigungsministerium der politischen Scharfmacher Ramsan Kadyrow und Jewgeni Prigoschin angeführt. Dabei wird jedoch oft übersehen, dass sie im System der Macht in Russland eine gewollte Rolle spielen, nicht etwa eine störende. Der russische Politologe Fjodor Krascheninikow spricht dabei von der Erzeugung einer Illusion, dass in den gesellschaftlichen Spitzen unterschiedliche Ansichten vertreten sind. Das Konzert verschiedener Nuancen einer Kriegsbefürwortung diene nach seiner Meinung nur dazu, die Russen zu einer Unterstützung des Krieges zu bewegen, verschiedene Begründungen zur Auswahl anzubieten, so der Politikwissenschaftler.
Sein Kollege Kirill Rogow vom Expertenprojekt Re:Russia stellt dazu fest, dass eine Spaltung von Eliten nicht das gleiche sei wie Konflikte innerhalb von Eliten, die in jedem Regime dazugehören. Rogow sieht keine Anzeichen für eine Fragmentierung rund um den Kreml, da etwa „Prigoschins Konflikt mit dem Militär nicht nur kontrolliert, sondern von der politischen Führung sogar provoziert wird“. Prigoschin diene dazu, psychologischen Druck auf das bisher erfolglose russische Militär aufzubauen. Weiterhin zeuge seine zunehmende Schärfe im Ton eher von einer „Schwäche seiner Position“.
So ist die „Musik des magischen Zusammenbruchs“ der Herrschaft von Putin, wie Rogow sie nennt und wie sie von deutschen Zeitungen fleißig gespielt wird, eine Illusion. Eine „mysteriöse Spaltung der Eliten verwandelt das Unwahrscheinliche wie eine magische Glaskugel in etwas Mögliches“. Mit der Realität und Stabilität der zunehmend totalitären Herrschaft in Russland hat dieser Begleitsound vieler westliche Beobachter jedoch wenig zu tun.
Roland Bathon arbeitet seit zwanzig Jahren als auf Russland und Osteuropa spezialisierter Journalist und Publizist. Er schreibt für die Fach- und Tagespresse und ist Autor mehrerer Sachbücher.