Putins Rede ans Volk: Selbstgerechte Scheinfriedenspolitik mit harter Botschaft

In der ersten Rede zur Lage der Nation seit Beginn des Angriffs auf die Ukraine hat Russlands Präsident viel wiederholt: Die Nato ist schuld, alles läuft gut, der Kampf gehe weiter. Aber wo war Ramsan Kadyrow?

 Wladimir Putin gestikulierend während seiner jährlichen Rede zur Lage der Nation
Wladimir Putin gestikulierend während seiner jährlichen Rede zur Lage der NationMikhail Metzel/AP

Am 21. Februar 2023 – dem Jahrestag der Anerkennung der sogenannten Volksrepubliken von Donezk und Luhansk – hielt Wladimir Putin seine Rede zur Lage der Nation vor dem russischen Parlament, ausgewählten Vertretern des Militärs und der zivilgesellschaftlichen Organisationen. Da es sich um die erste Rede Putins zur Lage der Nation seit April 2021 handelte, wurde über den möglichen Inhalt seit Wochen spekuliert.

Doch auch wenn Putin neben dem obligatorischen Rundumschlag gegen den „dekadenten Westen“ rein gar nichts Überraschendes oder auch Neues sagte, war die wesentliche Botschaft seiner Rede doch eindeutig: Mit einem baldigen Ende des russischen Angriffskrieges in der Ukraine sollte nicht gerechnet werden. Russland handle Schritt für Schritt, „präzise und konsequent“, sagte Putin, und läutete damit das zweite Jahr der sogenannten militärischen Spezialoperation ein.

Putin bestätigte zum wiederholten Male, dass die sogenannte russische Spezialmilitäroperation gegen die Ukraine planmäßig verlaufe und eine zeitliche Eingrenzung nicht vonnöten sei. Dabei sollen der Donbass befreit, die russischsprachige Bevölkerung auf den „historischen Territorien Russlands“ geschützt und die Sicherheit Russlands garantiert werden.

Ukraine als Antirussland

Der moderne Westen habe die Ukraine seit Jahren als politisches Aufmarschgebiet für Einflussoperationen gegen Russland aufbereitet und als ein Antirussland – ein „revanchistisches antirussisches Projekt“ – aufgebaut. Freilich ließ sich der Hobbyhistoriker Wladimir Putin eine historische Einordnung der Ereignisse nicht nehmen.

Wladimir Putin während seiner jährlichen Rede zur Lage der Nation
Wladimir Putin während seiner jährlichen Rede zur Lage der NationDmitry Astakhov/AP

Denn nach Ansicht des russischen Staatschefs lassen sich die Ursprünge des Projektes „Ukraine als Antirussland“ bis ins 19. Jahrhundert in das Habsburger Österreich und Polen zurückführen. In Fortsetzung dieser historischen Traditionslinie förderte der Westen antirussische neonazistische Kräfte und bereitete die „vom Westen okkupierte“ Ukraine auf den Krieg gegen Russland vor.

Moskau habe gar nicht anders handeln können, als auf diese antirussische Politik zu reagieren. Unter dem Schutzschirm der Nato habe die ukrainische Führung die russische Kultur und die russische Sprache bekämpft und damit begonnen, auch Menschen zu verfolgen, die sich als Teil der russischen Welt fühlten. Die eigentliche Zielsetzung des Westens bestehe nach Ansicht Wladimir Putins darin, Russland seine historischen Gebiete zu entreißen.

Kiew als ein bloßes Werkzeug imperialer Ambitionen des Westens

Angebliche westliche Aufforderungen an Kiew, den Kampf gegen Moskau fortzusetzen, bestätigen aus der Sicht Putins die Instrumentalisierung sowie den reinen Werkzeugcharakter der Ukraine. Die führenden Nato-Staaten wollten ihre globale Rolle auf Kosten der ukrainischen Bevölkerung behaupten. Letzteres sei für den Kreml aber nicht überraschend, denn die Nato habe sich seit 2014 auf eine Konfrontation mit Russland vorbereitet, zeigt sich der russische Präsident überzeugt.

Dabei solle nicht nur die internationale Führungsrolle der Nato bestätigt, sondern auch die globale Hegemonie im Sinne imperialer Ambitionen der Welt aufgezwungen werden. Russland habe dagegen alles getan, um diesen komplexen Konflikt friedlich zu lösen. Während der Westen den Krieg bereits im Jahr 2014 in Gang brachte, setze Russland „militärische Gewaltmaßnahmen“ ein, um den Krieg zu beenden. Damit kam Moskau der für Februar 2022 angesetzten „ukrainischen Strafoperation gegen die Bevölkerung des Donbass“ zuvor. Schließlich kämpfe Moskau nicht gegen das ukrainische Volk, denn dieses sei selbst Opfer und Geisel des „neonazistischen ukrainischen Regimes“ in einem „vom Westen okkupierten Staat“ geworden.

Vor fliegenden Tauben: Am Strand von Sewastopol in der Ukraine wird die Rede von Kremlchef Wladimir Putin zur Lage der Nation übertragen.
Vor fliegenden Tauben: Am Strand von Sewastopol in der Ukraine wird die Rede von Kremlchef Wladimir Putin zur Lage der Nation übertragen.AP

Die totalitären Werte des Westens

Die westlichen Versuche des weltweiten Aufoktroyierens von neoliberalen, ihrem Wesen nach totalitären Werten werden scheitern, so Putin. Die Diktatur der westlichen Eliten richte sich zwar gegen alle Gesellschaften, nicht zuletzt gegen die Völker der westlichen Staaten selbst. Die totale Verleugnung des Menschen, die Untergrabung des Glaubens und der traditionellen Werte, die Unterdrückung der Freiheit nehmen die Züge eines regelrechten Satanismus an, beschwerte sich Russlands Staatschef. Schließlich zeige sich der Westen in seinem Kampf gegen Russland bereit selbst mit dem Teufel zu paktieren. Doch während im Westen die Entwertung aller Werte voranschreite und Pädophilie zu einer gesellschaftlich akzeptierten Verhaltensnorm werde, setze sich Russland für die Zukunft der Kinder ein. Ob Putin damit die durch die russischen Streitkräfte entführten ukrainischen Kinder meinte, die zur Zwangsadoption in Russland freigegeben worden sind, blieb freilich unbeantwortet.

„Alles für den Sieg“

Insgesamt zeigte sich Wladimir Putin selbstzufrieden und siegesgewiss. Die russische Wirtschaft habe dem internationalen Sanktionsdruck standgehalten und neue vertrauenswürdige Kooperationspartner gefunden. Die Rolle des großzügigen Herrschers sichtlich genießend, erteilte Putin unzählige Aufträge zur Unterstützung der sozialschwachen Gruppen. Diese Scheingroßzügigkeit sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die tatsächlichen Ressourcen Russlands stark begrenzt sind. Somit könnte Putin bereits in der nächsten Rede die Bevölkerung und die Eliten auf die Mobilisierung aller für den Sieg benötigten Ressourcen einschwören.

 Wiktor Solotow, Chef der russischen Nationalgarde, trifft Ramsan Kadyrow (rechts) in Grosny.
Wiktor Solotow, Chef der russischen Nationalgarde, trifft Ramsan Kadyrow (rechts) in Grosny.imago

Schleichende Entmachtung Kadyrows?

Ungleich überraschender und interessanter als die ohnehin erwartbaren Inhalte von Putins Rede war das Fehlen des tschetschenischen Machthabers Ramsan Kadyrow, eines zentralen Vertreters des radikalen Flügels der sogenannten Partei des Krieges. Bislang war Kadyrow bei allen wichtigen öffentlichen Reden Putins im Saal zu sehen gewesen. Ob das Fehlen Kadyrows mit den Gerüchten rund um ein gescheitertes Komplott von Jewgenij Prigoschin und Ramsan Kadyrow gegen die Führung des russischen Verteidigungsministeriums Sergej Schoigu und Walerij Gerasimow zusammenhängt, dürfte sich in den kommenden Wochen erweisen.

Auch wenn mit einer Absetzung Ramsan Kadyrows angesichts seines systemrelevanten Charakters kaum gerechnet werden kann, dürfte Kadyrow dennoch deutlich unruhigeren Zeiten entgegenblicken. Damit wird die seit Beginn der „Spezialmilitäroperation“ vorangetriebene Schwächung der russischen Regionen weiter vorangetrieben.

Kremls Worte ernst nehmen

Die Worte Putins zeigen zum wiederholten Male seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine, dass die russische Führung in einer Filterblase eigener abstruser Weltanschauung lebt.

Gerade Putins Vorwürfe imperialer Ambitionen der Nato sowie eines globalen Hegemonieanspruches des Westens erscheinen nicht nur völlig abwegig, sondern geradezu selbstoffenbarend zu sein. Als der Präsident der Vereinigten Staaten Joe Biden in einem Fernsehinterview gegenüber ABC News im März 2021 den Präsidenten Russlands Wladimir Putin beiläufig als Mörder bezeichnete, antwortete Putin mit einem russischen Kinderspruch: „Wie du mich schimpfst, so heißt du selbst.“ Nunmehr ist es wohl an der Zeit, auf die infam-absurden Anschuldigungen Putins mit den gleichen Worten zu antworten.

Der Westen wäre gut beraten, seine politischen Entscheidungen auf der Grundlage tatsächlicher Handlungen und Äußerungen der russischen Führung zu treffen und nicht auf dem sprichwörtlichen Sand selbstgerechter Scheinfriedenspolitik zu bauen. Nach 363 Tagen des brutalen russischen Angriffskrieges kann mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit festgehalten werden, dass der russische Präsident von Beginn an keinerlei Interesse an einer diplomatischen Lösung hatte. Daran hat sich bislang nichts geändert. Es ist Zeit, aufzuwachen.