Wolfgang Thierse zu Antje Vollmer: „Ich erinnere an ihren unbeirrbaren Pazifismus“
Der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse nimmt Abschied von Antje Vollmer. Ihr Tod sei auch ein persönlicher Verlust, schreibt der Sozialdemokrat.

Antje Vollmer ist gestorben. Die Nachricht macht mich sehr traurig. Obwohl ich doch wusste, wie krank sie war, schon lange. Ihr Tod ist auch ein persönlicher Verlust, denn ich habe sie lange gekannt und wir waren uns politisch wie menschlich nahe, weil wir auch Altersgenossen sind.
Bestaunt habe ich sie schon in der 80er-Jahren und zwar aus der Ferne des DDR-Bürgers, via Fernsehberichten über Bundestagsdebatten: diese kleine, zierliche Frau mit der zitternden Stimme und dem großen moralisch-politischen Atem! Und dann in den 90er-Jahren habe ich sie aus der Nähe erlebt als Bundestagskollegin: Wir haben oft übereingestimmt, obwohl wir in verschiedenen Parteien waren. In den sieben Jahren gemeinsamer Mitgliedschaft im Bundestag dann war sie eine verlässliche Kollegin, bedacht auf die Regeln und die Würde des Parlaments.
Lesen Sie hier den Vermächtnistext von Antje Vollmer, den die Politikerin kurz vor ihrem Tod exklusiv für die Berliner Zeitung verfasst hat
Antje Vollmer hat eine für die bundesdeutschen 68er durchaus paradigmatische politisch-intellektuelle Entwicklung genommen: evangelische Christin, ja Theologin, in den 70er-Jahren eher im sehr linken politischen Milieu zu Hause; seit den 80er-Jahren dann Mitglied der Grünen und eine ihrer Führungsfiguren; als Sprecherin (innerhalb des „Feminats“) der Bundestagsfraktion wurde sie mehr und mehr eine „Reala“, wie das bei den Grünen heißt.
Sie wurde als Vizepräsidentin eine über Parteigrenzen hinweg geachtete Repräsentantin des deutschen Parlaments. Und blieb immer ein ganz freier, sehr souveräner Mensch mit viel politischem Mut, der gelegentlich auch trotzig wirkte und mich immer beeindruckte.

Antje Vollmer: Einsatz für Tibet, NS-Zwangsarbeiter und Wehrdienstverweigerer
Ich erinnere an ihre Dialog- und Versöhnungsversuche mit der RAF, die öffentlich auf heftiges Befremden und wütende Empörung stießen. Ich erinnere an ihren unbeirrbaren Pazifismus, der sie in Konflikt mit der eigenen Partei brachte – vor 30 Jahren und heute wieder. Vor vier Wochen, am 25. Februar, hat die Berliner Zeitung ihren Abschiedstext abgedruckt: „Was ich noch zu sagen hätte“ – ein kritisches, zugleich resignatives und leidenschaftliches politisch-moralisches Vermächtnis, in dem noch einmal viele Motive ihres Lebens anklangen.
Wofür alles hat sie sich engagiert, womit alles hat sie sich befasst! Ihr Interesse, ihr Einsatz galten Tibet und dem Dalai Lama, der deutsch-tschechischen Versöhnung, der Entschädigung von NS-Zwangsarbeitern, Euthanasie-Opfern und Wehrdienstverweigerern. Sie war Vorsitzende des Runden Tisches Heimerziehung. Sie hat sich in mehreren Büchern mit dem deutschen Widerstand gegen Hitler beschäftigt und eindrucksvolle Porträts gezeichnet vom Ehepaar Lehndorff und von den Gefährten Stauffenbergs.
Antje Vollmer war wahrlich keine „Fachpolitikerin“, sondern hatte einen weiten Blick, niemals borniert, sondern auch zu Selbstkritik und Meinungsänderung fähig (zum Beispiel in Sachen deutscher Wiedervereinigung). Sie wollte – gelegentlich auch irritierend – über Parteien hinweg, deren Beengungen überschreitend, immer wieder neu Bewegung schaffen.
Und blieb dabei immer sie selbst, immer bei sich: Eine kenntliche ökumenische Christin, eine „störrische“ Pazifistin, eine entschiedene Demokratin, eine sensible Kulturpatriotin und -europäerin, eine Grenzen-Überwinderin … Und eine bezaubernde kleine große Frau und Freundin (die mir fehlen wird). Auf Wiedersehen, Antje!
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