Wut in Israel: Ich protestiere, weil diese Regierung durch und durch korrupt ist
Trotz der Anschläge: Zehntausende haben wieder gegen Netanjahus Regierung und die geplante Justizreform demonstriert. Was treibt die Menschen auf die Straße?

Was wohl der alte Theodor Herzl da oben über die Demonstranten da unten denkt? Von einem riesigen Plakat an einem Gebäude in der Kaplanstraße blickt der Mann mit dem Rauschebart wie ein Abbild des Allmächtigen auf ein Meer von Fahnen. Unter den Augen des gütig anmutenden Gründers des politischen Zionismus sind sonst am späten Sonnabend nur wenige Menschen unterwegs. An diesem Abend aber ist die Kaplanstraße zum wiederholten Mal Schauplatz einer großen Demonstration.
„Demokratie! Demokratie!“, ruft die Menge. Seit vier Wochen demonstrieren in Israel Zehntausende jeden Samstagabend gegen die neue Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und deren geplante Justizreform. Vor allem säkulare Israelis fürchten, dass die Koalition mit ihren ultrareligiösen und rechtsextremen Parteien das Gesicht des Landes unumkehrbar verändern wird.
An diesem Wochenende demonstrierten israelischen Medienangaben zufolge allein in Tel Aviv mehr als 40.000 Menschen, in Haifa waren es über 13.000, in Jerusalem mehrere Hundert. Dass weniger Menschen auf der Straße waren als vergangene Woche – damals wurde die Teilnehmerzahl auf über 130.000, am Sonnabend auf etwa 60.000 geschätzt –, wird auf die Jerusalemer Terroranschläge am Vorabend zurückgeführt.
Am Freitagabend hatte ein palästinensischer Attentäter vor einer Synagoge in der israelischen Siedlung Neve Yaakov in Ostjerusalem sieben Menschen getötet und mehrere verletzt. Polizisten erschossen den Angreifer daraufhin. Bei einem weiteren Anschlag hatte ein 13-jähriger Palästinenser im Ostjerusalemer Stadtteil Silwan einen Vater und seinen Sohn durch Schüsse schwer verletzt.
Die Sicherheitslage war bereits zuvor als verschärft eingestuft worden, nachdem die israelische Armee in Jenin im Westjordanland am Donnerstag neun Palästinenser erschossen hatte. Sieben davon sollen Mitglieder der radikalislamischen Hamas und der Terrorgruppe Islamischer Jihad gewesen sein.
Tel Aviv: Schweigeminute für Opfer der Terroranschläge
In Tel Aviv gedachten die Demonstranten der Opfer der Jerusalemer Terroranschläge mit einer Schweigeminute. In sozialen Netzwerken und regierungsnahen Medien wurden die Protestmärsche nach den Attentaten dennoch besonders scharf kritisiert.
Was viele Israelis derzeit auf die Straße treibt, ist vor allem die geplante Justizreform der Regierung. Unter anderem soll in Zukunft eine Mehrheit in der Knesset, dem israelischen Parlament, Gesetze durchsetzen können, auch wenn diese aus Sicht des Obersten Gerichts gegen das Grundgesetz verstoßen. Justizminister Jariv Levin will auch mehr Mitspracherecht des Parlaments unter anderem bei der Wahl von Richtern.
„Es ist ein Wendepunkt“, sagt Lior Livne, „das Gefühl, dass gerade etwas wirklich Schlimmes passiert. Ich kann im Moment nicht einfach zu Hause bleiben.“ Der 47-jährige Grafikdesigner ist mit seinem Partner Avner Thaler zum wiederholten Mal in diesem Januar auf der Straße, um gegen die neue Regierung zu demonstrieren. „Unter liberalen und linken Israelis breitet sich gerade Verzweiflung aus, aber die Demonstrationen geben uns Hoffnung. Der Hauptgrund dafür, dass ich dabei bin, ist, dass die neue Regierung das Gesicht Israels verändert und die Demokratie verletzt. Das hat auch Auswirkungen auf die Menschenrechte.“
In der Kaplanstraße schwenken Unzählige die Nationalflagge Israels mit dem Davidstern. In das weiß-blaue Fahnenmeer mischen sich jedoch auch vereinzelt andere Farben. Die Demonstranten eint ihre Sorge über die geplante Justizreform, doch ihre Banner und Fahnen zeigen, dass in Tel Aviv ganz unterschiedliche Gruppierungen verschiedenster politischer und gesellschaftlicher Hintergründe ihren Zorn auf die Regierung auf die Straße tragen.
Am Dienstag demonstrierten in Tel Aviv bereits 1000 allein aus der Hightech-Branche gegen die geplante Justizreform. Viele IT-Firmen fürchten, dass infolge der Reform und einer immer weiter nach rechts driftenden Politik ausländische Investoren Israel meiden werden. Einige drohen, das Land zu verlassen, sollte die Reform durchgesetzt werden.
An diesem Abend schwenkt eine Gruppe die Fahnen der Kommunisten und Antifaschisten. Daneben flattern vereinzelt schwarze und rosafarbene Fahnen. Einige wenige tragen auch an diesem Sonnabend Flaggen Palästinas, die auf Wunsch des neuen Ministers für Nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, auf Demonstrationen eigentlich verboten sind, „wenn sie die öffentliche Ordnung gefährden“.
Gegen Anweisung des Justizministers: Einige tragen die Flaggen Palästinas
„Ich habe die Anweisung erteilt, die Flaggen, die den Terrorismus unterstützen, aus dem öffentlichen Raum zu entfernen und die Aufwiegelung gegen den Staat Israel zu unterbinden“, twitterte der Vorsitzende der rechtsextremen Partei Otzma Jehudit Anfang Januar. Ob die Anordnung rechtskonform ist, ist noch unklar. Die palästinensische Flagge aufzuhängen und zu zeigen, war in Israel bisher grundsätzlich nicht verboten. Weitere Demonstranten halten Schilder mit „Palestinian Lives Matter“ und „It’s either Democracy or Occupation“ hoch.
Im Jahr 2022 waren nach Angaben des Amts der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (UNOCHA) 209 Palästinenser im Zusammenhang mit Militäreinsätzen, bei gewalttätigen Auseinandersetzungen und Razzien durch israelische Soldaten ums Leben gekommen. Die Zahl schließt 50 während der Militäroperation in Gaza im August Getötete ein. Etlichen der Zusammenstöße waren Terroranschläge vorausgegangen, bei denen der UNOCHA zufolge 21 israelische Zivilisten, Polizisten und Soldaten von Palästinensern aus dem Westjordanland getötet wurden. Andere Organisationen nennen insgesamt 31 israelische Opfer. Seit 2005 war der Konflikt nicht mehr so blutig. Zu Jahresbeginn spitzten sich die gewalttätigen Zusammenstöße im Westjordanland immer weiter zu.
In der Kaplanstraße sind viele auch mit Regenbogenfahnen zur Demonstration gekommen. „Nehmen wir die Rechte von Homosexuellen in Israel“, sagt Avner Thaler, „sie wurden durch Gerichtsbeschlüsse erreicht. Sie können sich ändern. Die Rechte von Minderheiten allgemein wären nicht geschützt.“ Der 45-jährige Neurologe sorgt sich um die Zukunft seines Landes im Allgemeinen. „Meine Mutter hat noch nie in ihrem Leben demonstriert, aber jetzt ist sie dabei. Wenn der angestrebte Wandel so eintreten sollte, wenn Israel keine Demokratie mehr sein wird, möchte ich mit meiner Familie nicht mehr hier sein. Viele in unserem Umfeld denken so.“
Die Autorin und Historikerin Fania Oz-Salzberger war in den vergangenen Wochen ebenfalls wiederholt auf den Demonstrationen in Tel Aviv und Haifa. „Ich protestiere nicht, weil die Regierung durch und durch rechts ist, sondern vielmehr, weil sie durch und durch korrupt ist“, sagt sie. „Ich protestiere im Namen der Väter und Mütter Israels, die sich gerade im Grab umdrehen.“
Die 62-jährige Tochter des Schriftstellers Amos Oz, deren Bücher „Israelis in Berlin“ und „Juden und Worte“ auch auf Deutsch erschienen sind, hat in den politischen Debatten Israels immer wieder Stellung bezogen. Die geplante Justizreform sieht sie mit besonderer Sorge. „Wenn die Unabhängigkeit der Justiz abgeschafft wird, ist das hier kein lebenswertes Land mehr. Ich demonstriere dafür, dass Israel noch anständige Freunde hat, denn wenn dieser Staatsstreich wirklich gelingen sollte – dann wird kein anständiger Mensch mehr, weder in Israel noch sonst wo auf der Welt, in der Lage sein, mein Land zu unterstützen. Nur Viktor Orbán und seine Freunde. Und vor allem zeige ich, dass ich eine Patriotin des Landes bin und es von ganzem Herzen liebe, solange es eine Demokratie ist.“
Unter dem Abbild Theodor Herzls auf der Plakatwand an der Kaplanstraße hält Nir Akoka, 50, seine sechsjährige Tochter Noga auf dem Arm. Er ist einer von vielen Eltern, die auch ihre Kinder mit zur Demonstration gebracht haben. „Wir sind als ganze Familie gekommen, um gemeinsam für den Schutz des demokratischen Charakters Israels zu demonstrieren“, sagt der Ökonom. „Wir sind gekommen, um unsere Unterstützung für die Prinzipien von Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit für alle ohne Ausnahme zu demonstrieren. Wir sind gekommen, um allen zu sagen, dass wir sie sehen und hören, einschließlich aller Religionen und Lebensbereiche in Israel.“
Von Juni 2021 bis Ende Dezember bildete das Kabinett unter den aufeinander folgenden Ministerpräsidenten und Koalitionspartnern Naftali Bennett und Jair Lapid die Regierung. Es wurde von der rechtsreligiösen Koalition von Netanjahus Likud-Partei abgelöst. Die vorausgegangenen Wahlen zeigten einmal mehr die Zerrissenheit der israelischen Gesellschaft. Mit Unterstützung der strengreligiösen Parteien Schas und Vereinigtes Thora-Judentum sowie der rechtsextremen Parteien Otzma Jehudit und Ha-Ichud HaLeumi – Tkuma gelang Netanjahu erneut eine Koalition. Es ist die am weitesten rechts stehende Regierung in der Geschichte Israels.
Nir Akoka sagt, er akzeptiere, dass die Mehrheit die Wahlen gewonnen hat, auch wenn er deren Entzückung darüber nicht teile. „Das Oberste Gericht ist einem hemmungslosen Angriff unverantwortlicher Politiker ausgesetzt, die Desinformationen und giftige Rhetorik verbreiten, die es nicht zulassen, dass ein echter Diskurs über die Nation geführt wird“, sagt er. „Ein unabhängiges Oberstes Gericht ist bei Bedarf für das Gleichgewicht des politischen Systems unverzichtbar.“
Akoka sieht wie viele andere Israelis, dass die geplante Justizreform vor allem Politikern dienen könnte, ihren Machterhalt zu sichern. „Der große Elefant im Raum ist Netanjahus Prozess“, sagt er. Der Ministerpräsident ist weiter wegen Korruptionsvorwürfen angeklagt. Kritiker glauben, dass eine Schwächung des Justizsystems vor allem darauf zielt, Netanjahu zu schützen und die Rechtsstaatlichkeit weiter auszuhebeln.
Am Samstagabend ließ Netanjahu infolge der Jerusalemer Anschläge neue Anti-Terror-Maßnahmen ankündigen. Israelische Bürger sollen künftig schneller an Lizenzen für Schusswaffen kommen. Israel werde auch Schritte unternehmen, „die Siedlungen zu stärken“. Seine Kritiker befürchten, dass dies die Gewalt nur weiter anheizen wird.