Nach Klimavolksentscheid: Zwei Drittel Berlins werden als „Randbezirke“ verunglimpft
Unsere Autorin lebt im Steglitzer Ortsteil Lankwitz. Die abfällige Bezeichnung der Medien für die Welt außerhalb des S-Bahn-Rings empört sie. Ein Kommentar.

Den Pizzarand liegen zu lassen, ist immer ein wenig peinlich. Auch wenn er nur das trockene Überbleibsel einer fettigen Mahlzeit ist: Der Rand ist Teil der Schöpfung des Pizzabäckers. Da mutet es despektierlich an, ihn wissentlich der Mülltonne zuzuführen; von der Lebensmittelverschwendung einmal abgesehen. Auch der Fettrand eines Koteletts ist bei vielen nicht sonderlich beliebt. Er macht das Stück Fleisch saftiger, gilt für sich genommen aber nicht als kulinarische Offenbarung. Niemand würde den Fettrand ohne das Kotelett bestellen. Umgekehrt schon eher.
Ähnlich verhält es sich mit den Bezirken, die Berlin-Mitte, Kreuzberg und Co umschließen. Sie sind grüner, also saftig wie der Fett- und sattmachend wie der Pizzarand, werden aber immer wieder von Menschen, die innerhalb des S-Bahn-Rings wohnen, abfällig als „Randbezirke“ bezeichnet.
Ist es nicht einsam dort, am „Rand“ von Berlin?
So geschehen kürzlich beispielsweise in Form eines Tweets des RBB. Vor allem in den – dieses Wort ekelt an wie das glitschige Fett am Fleisch – „Randbezirken“ Berlins hätten die Wahlberechtigten gegen den Volksentscheid „Berlin 2030 klimaneutral“ gestimmt, während die „grünen Milieus“ dafür stimmten.
Mit grünen Milieus sind zwar die Anhänger der Partei Bündnis 90/Die Grünen gemeint, die Aussage unterstellt aber, dass neun von zwölf Bezirken kein Interesse am Klimaschutz hätten. Dass sie der Rand seien, der nicht zum aufgeklärten Teil der Gesellschaft gehört.
"Berlin 2030 Klimaneutral" ist krachend gescheitert. Der Grund: Vor allem Menschen in den Randbezirken #berlins haben dagegen gestimmt, während die grünen Milieus im Zentrum dafür waren. Dazu unsere Analyse. https://t.co/DczqvzOEF2
— rbb|24 (@rbb24) March 27, 2023
Ich wohne seit 2017 im Steglitzer Ortsteil Lankwitz im Süden Berlins. Schon oft habe ich mir anhören müssen, wie spießig der Bezirk sei. Implizit fragen mich Mitte-Menschen, ob es nicht einsam sei, am „Rand“. Dann antworte ich widerwillig, weil ich allein schon die Frage übergriffig finde, dass ich Nachbarn habe. Echte Nachbarn, die sich in schwierigen Situationen um mich gekümmert haben. Nachbarn, die mir warme Mahlzeiten vor die Tür stellen. Nachbarn, die mir aushelfen mit Bohrmaschine oder Heizdecke. Dass ich Bäume vor dem Balkon habe. Und einen Vorgarten, den mein fast 90-jähriger Vermieter teilweise noch selbst mit Rosen bepflanzt. Der Gemüse-Döner-Verkäufer grüßt mich, wenn er mich an der S-Bahn-Haltestelle trifft. Ich gehe joggen am Teltow-Kanal. Ich zahle unter 600 Euro Warmmiete.
Der Mauerpark ist objektiv hässlich
Lankwitz ist spießig in dem Sinne, dass es hier keine hippen Cafés und Bars gibt. Aber wie viel mehr wert sind Menschen, die im Alltag aufeinander achtgeben? Und wünschen wir uns nicht alle einen grünen Bezirk, der tatsächlich von Bäumen und Wasser umgeben ist und in dem man noch zu bezahlbaren Preisen leben kann? Als ich in Prenzlauer Berg gewohnt habe, lebte ich in weitgehender Anonymität. Das hat seine Vorzüge, wenn man Anfang 20 ist, aber wenn man alleine lebt, wünscht man sich doch hin und wieder Gesellschaft. Der Mauerpark war um die Ecke, doch von viel Grün konnte hier keine Rede sein. Der Mauerpark ist objektiv hässlich.
Kurz-Analyse zum Volksentscheid. pic.twitter.com/bxlb1Xchtv
— Alf Frommer (@alf_frommer) March 27, 2023
Kaum etwas spaltet die Gesellschaft mehr als die feuilletonistische Salonlinke, die meint, zum guten Teil der Gesellschaft zu gehören, weil sie mittig denkt, mittig handelt, mittig wohnt. Sie behauptet, solidarisch zu sein, blickt aber mit Verachtung auf Menschen am „Rand“.
Es gibt keine „Randbezirke“, es gibt nur Berlin
Wo sind die Menschen, die über den eigenen Tellerrand blicken? In Kreuzberg, Prenzlauer Berg und Berlin-Mitte sind sie schon lange nicht mehr anzutreffen. Das zeigt die Bezeichnung „Randbezirke“ für Gegenden, die zwar zu Berlin gehören, die aber von den Bewohnern innerhalb des S-Bahn-Rings kaum aufgesucht werden. Man müsste auf den Pornstar Martini in der von Interieur-Experten designten Bar verzichten und wieder ein kühles Helles in der schrabbeligen Kiezkneipe trinken. Oder auf dem Markt einkaufen gehen, anstatt vegan zu brunchen. Man müsste das internationale Flair verlassen und Ur-Berliner kennenlernen.
Ich wünsche mir, dass wir in Berlin in einer Gemeinschaft leben. Das heißt: Es gibt keine „Randbezirke“, es gibt nur Berlin. Wenn sich die Bewohner innerhalb des S-Bahn-Rings allerdings nicht aus ihrer Arroganz herausschälen und ihrer Abfälligkeit gegenüber einer Gesellschaft, zu der auch Bewohner wie meine ach so spießigen Nachbarn gehören, Herr werden wollen, bleibt nur eins zu sagen: „Fick dich, Berlin-Mitte!“