Zweiter Weltkrieg: Gauck gedenkt sowjetischer Kriegsopfer
Bundespräsident Joachim Gauck ist in den vergangenen Jahren der deutschen Blutspur durch Europa gefolgt. In Tschechien, Frankreich, Italien, Griechenland, Polen hat er die Orte der schlimmsten Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs besucht. Nur das Land mit den größten Opfern fehlt noch, Russland.
Die ohnehin schwierigen Bemühungen um einen Besuch in Moskau sind unter den Verwerfungen der Ukraine-Krise vollkommen zum Stillstand gekommen. Aber Gauck empfindet gerade angesichts der wiedergekehrten Kalte-Kriegs-Stimmung im Verhältnis zu Russland das dringende Anliegen, sich endlich auch vor den Bürgern der Sowjetunion zu verneigen. Dies gilt zumal für die Soldaten der Roten Armee, die einen entscheidenden Anteil an der Befreiung Deutschlands von seinen eigenen Tyrannen hatten.
Ausgehungert und misshandelt
So wird er nun am 6. Mai, unmittelbar vor dem 70. Jahrestag dieser Befreiung, den größten Friedhof für sowjetische Kriegsgefangene in Deutschland besuchen. Er werde dort der Soldaten gedenken, „die während des Zweiten Weltkrieges in deutscher Kriegsgefangenschaft zu Hunderttausenden infolge von Hunger, Misshandlungen und Zwangsarbeit starben“, teilte das Präsidialamt mit. Bei einem mehrstündigen Aufenthalt will sich Gauck über die Geschichte des früheren Stammlagers Stukenbrock der Wehrmacht und das Schicksal der Inhaftierten informieren. Er wird dann eine Rede an dem Mahnmal halten, das an 65 000 sowjetische Gefangene erinnert, die in dem einstigen Lager „Stalag 326“ der Wehrmacht getötet worden waren.
Der Besuch des Bundespräsidenten in Stukenbrock ist von besonderer symbolischer Bedeutung, denn dies war schon zu Zeiten des Kalten Krieges einer der wenigen Orte in der Bundesrepublik, an dem der Opfer der Sowjetunion gedacht wurde und wo es Begegnungen der einstigen Kriegsgegner gab. Jedes Jahr um den 1. September organisierte der vor allem von Gewerkschaftern, Sozialdemokraten und Kommunisten gebildete Arbeitskreis „Blumen für Stukenbrock“ diese Gedenkveranstaltungen und wurde dafür von konservativer Seite angefeindet. Der frühere Berliner Regierende Bürgermeister Heinrich Albertz, Sozialdemokrat und Pfarrer, hat daran in seinem Buch „Blumen für Stukenbrock“ erinnert, nachdem er selber 1980 dort als Redner eingeladen war.
„Der größte Friedhof dieser Art in Deutschland, sagt man mir“, schrieb er. „Auschwitz, Dachau, Buchenwald – diese Namen sind nun langsam bekannt, widerwillig bekannt geworden. Stukenbrock kennen nur die Nachbarn, die unmittelbar Betroffenen, hier wurde nicht verbrannt und gemordet, hier wurde gestorben und verscharrt, zu Tausenden, in der Verantwortung der deutschen Wehrmacht. Keine SS, keine Gestapo war hier nötig.“
Viele Gefangene wurden aus dem Lager als Zwangsarbeiter in Stahl- und Bergwerke des Ruhrgebiets geschickt und kehrten vollkommen entkräftet nur noch zum Sterben zurück.
Bislang keine staatliche Feier
Albertz beschrieb seine Eindrücke vom Gedenken 1980 so: „Junge Leute zumeist, Jungsozialisten, junge Demokraten und Gewerkschaftler, ein paar Pfarrer und ihre Gemeinden, Kommunisten, natürlich auch sie, sie in ihrer verschwindenden Minderheit in großer Zahl. Sie stießen in das Vakuum, das die anderen gelassen hatten: die Offiziellen, die Etablierten, die Parteien, die Behörden, die Bundeswehr, die Kirchen. Keiner war offiziell da.“
Möglicherweise kennt Joachim Gauck diese Schilderungen seines einst wie er in die Politik gewechselten Pfarrerkollegen Heinrich Albertz. Sein Besuch wirkt nun wie eine lange ausstehende Antwort.
Allerdings wird er das Mahnmal nicht in seinem Originalzustand sehen. 1956, wurde die gläserne sowjetische Fahne auf der Spitze des Mahnmals entfernt und durch ein orthodoxes Kreuz ersetzt. Seit etwa zehn Jahren gibt es einen bizarren Streit um die Rückkehr der Fahne, wie sie vom niedersächsischen Landtag beschlossen wurde.
Am 8. Mai nimmt der Präsident an der Gedenkstunde des Bundestages anlässlich des 70. Jahrestages des Kriegsendes teil. Anschließend wird er im brandenburgischen Lebus eine Kriegsgräberstätte besuchen und hier der sowjetischen Soldaten gedenken, die im Kampf gegen Deutschland gefallen sind.