Professor mit bühnenreifer Show : Der Charly Chaplin des Latein-Unterrichts
Loquere post tinnitum“, tönt eine heisere Stimme vom Anrufbeantworter: „Sprechen Sie nach dem Pfeifton.“ Weil er felsenfest davon überzeugt ist, dass Latein keine tote Sprache ist, sondern eine höchst lebendige, hat Wilfried Stroh konsequenterweise seine Mailbox entsprechend eingerichtet.
Es ist später Vormittag, der Professor sitzt im Zug von Freising nach München. Um 14 Uhr beginnt sein „Colloquium Latinum“ in der Ludwig-Maximilians-Universtität. Seit mehr als 30 Jahren ist das so, von denen er schon zehn im Ruhestand ist. Eigentlich. Nach guter akademischer Sitte beginnt die Veranstaltung eine Viertelstunde später, cum tempore, und während der Meister auf dem Gang seine Cola light austrinkt, fahren die Teilnehmer des Seminars ihre Notebooks hoch. Thema: Marcus Fabius Quintilianus.
Es ist eine verschworene Gemeinschaft, die sich in Raum M003 neben dem Audimax Woche für Woche einfindet. Man muss klingeln, um in das Institut für Klassische Philologie eingelassen zu werden. Zwei jüngere Assistenten im Nebenraum tauschen vielsagende Blicke aus, als Stroh mit einem großen knallgelben Schirm unterm Arm hereinkommt. Er weiß, dass er als Paradiesvogel gilt, und kann mit diesem Image, wie er später sagt, „sehr gut leben“. Und er weiß, dass nicht alle seine Zunftkollegen von der Ernsthaftigkeit seines Anliegens überzeugt sind. Er selbst ist es umso mehr. Und so hat er in München, das längst als Zentrum der sprechenden Latinisten gilt, aber auch deutschlandweit Verbündete.
Einen längeren lateinischen Wortschwall auf den Lippen, betritt er den kleinen Übungsraum, und das gute Dutzend Hörer (die unter Strohs Regie erfolgreich zu Sprechenden mutieren sollen) begrüßt ihn wie früher den Lehrer in der Volksschule im Chor. Natürlich nicht mit „Hallo“ oder „Grüß Gott“, sondern mit „Salve“. Begrüßungsformeln und Höflichkeitsfloskeln gehörten zum Anspruch eines aktuellen Latein, findet Stroh. So oft sich Gelegenheit bietet, parliert er mit seinen Studenten über Alltägliches, über das Wetter, die Ferien oder über die CSU. Sermo cottidianus nennt er, was natürlich in keinem Lehrplan oder Vorlesungsverzeichnis steht: Small Talk auf Latein.
Der Wille der Venus
Tennis und Telefon könne man nicht übersetzen, ohne dass es albern wirke, Handy heiße eben telefonum mobile. Bei manchen Neuschöpfungen graust es ihn, bei dem nicht sonderlich originellen Kunstwort „sexualitas“ zum Beispiel. Kein Römer hätte damit etwas anfangen können, denn er hatte für alles, was mit Sexualität zusammenhing, einen wunderbar umfassenden Begriff: den Namen seiner Göttin Venus. Wie also zum Beispiel sexuelles Verlangen übersetzen? Voluntas Veneris, wörtlich der Wille der Venus, schlägt Stroh lachend vor, „natürlich eine Hilfskonstruktion, aber keine, die einen schaudern lässt“. Wie zahllose andere Kreationen, die alltagstauglich sein sollen, findet jedenfall der gestrenge Bestseller-Autor, der 2007 mit seinem Buch „Latein ist tot, es lebe Latein!“ einen Werbezug für die Weltsprache begann.
„Darf ich mich vorstellen?“ Wie sagt man das? Introducere, demonstrare, nominare oder, für Stroh noch furchtbarer, praesentare? „Das ist alles kein Latein, jedenfalls würde sich kein Römer so ausgedrückt haben“, ruft er in den Raum. Die Kunst, versucht er seinen Schülern zu vermitteln, bestehe darin, „dass wir unsere Gedanken in die Denkformen einer vergangenen Welt zurückübersetzen“. Das sind manchmal harte Nüsse. Antike und 21. Jahrhundert im Kennenlern-Small-Talk klassisch-korrekt zusammenzubringen.
Es wird viel gelacht im Kolloquium, in dem sich der Dozent rigoros um Einsprachigkeit bemüht. Mit Kreativität und viel Improvisationsgeschick. An diesem Nachmittag springt Stroh nur einmal kurz ins Deutsche, als es um einen Knaben geht, qui regulas non observat, der die Regeln nicht beachtet und ein Spielverderber ist. Auf seiner Homepage verkündet Stroh, er wolle „durch Hören und Sprechen einen natürlichen Zugang zur lateinischen Sprache eröffnen, die, wenn man sie bloß liest oder gar konstruiert, nur ungenügend erfasst werden kann“. Und genüsslich zitiert er den alten Quintilian, der als erster vom Staat besoldeter Rhetorik-Lehrer Roms gilt: Erst gesprochen werde Sprache zur Vollwertkost.
Schauspieler und Lehrer
Beim Dozieren, vor allem aber beim Deklamieren läuft Valahfridus, wie sich Stroh nennen lässt, zur Hochform auf. Mit weit ausholender Geste, viel Theatralik und gekonnter Mimik, liest er Passagen aus dem Quintilian-Werk „Die Ausbildung des Redners“ vor. Er trägt nicht bloß vor, sondern entzückt seine Studenten, die er später „meinen Fanklub“ nennen wird, mit einer bühnenreifen Show. Der Seminarleiter, der auch schon lateinisch-deutsche Talkshows bestritten hat, schneidet passend zum Text Grimassen und balanciert zu den unterschiedlichen Versfüßen rhythmisch seinen Aktenordner mit den Seminar-Unterlagen durch die Luft. Jetzt ist er ganz in seinem Element. Die jungen Leute erleben praktisch und handgreiflich, was der Meister meint, wenn er verlangt, „die Verse richtig zu sprechen und sie nicht mit falscher Betonung herunterzuleiern“. Auf solche Feinheiten achtet Stroh immer und überall, auch als er in den 80ern in Wackersdorf gegen Atomkraft und vor den Toren Münchens gegen Fluglärm protestierte – mit lateinischen Parolen, versteht sich.
Ursprünglich hatte Stroh mit der Schauspielerei geliebäugelt, ist aber froh, dass er sich für die akademische Laufbahn entschieden hat, weil er als Theatermann ja keine Vorlesungen halten könnte, „aber als Professor habe ich meine Bühne im Hörsaal“. Wenn sich die angehenden Lateinlehrer von seiner speziellen Art inspirieren lassen, muss man sich um die Zukunft des Fachs wenig Sorgen machen. „Diese 45 Minuten jede Woche sind mir wichtiger als mein ganzes übriges Pensum“, berichtet Andreas aus dem achten Semester.
Er habe sich immer als Didaktiker gefühlt, sagt Stroh, aber nie etwas von Pflicht oder gar Zwang gehalten, was lebenserhaltende Maßnahmen für Latein angeht. Gerade bei einem Fach, das weithin als nicht unbedingt notwendig oder exotisch betrachtet werde, bringe verordnete Förderung gar nichts. „Ich habe immer auf Freiwilligkeit gesetzt und auf die Macht der Ansteckung.“ Fünf oder zehn Minuten lingua viva am Ende jeder Lateinstunde, „das wäre doch schon was“.
Selbst auf den Geschmack gekommen ist der Pfarrerssohn als Philologie-Student mit Anfang 20. Damals übernahm er in einer sehr munteren siebten Klasse eine Latein-Vertretung und wusste nicht so recht, wie er die Dreizehnjährigen, die alles mehr interessierte als Übersetzen und Grammatik, für seine geliebte Sprache begeistern sollte. Da kam ihm die Idee, mit den Schülern auszuprobieren, wie das ist, mit ihnen Lateinisch zu reden, einfach so – und es funktionierte.
Der ausgewählte Seminartext von Quintilian erweist sich als Glücksfall, weil er sich ausgezeichnet dazu eignet, Latein lebendig und lebensnah zu vermitteln. Und nicht als eine Art Chemie, wie es Generationen von Schülern über sich ergehen lassen mussten: „Man suche sich als Kern eines Satzes das Prädikat und erfrage sich dann von links nach rechts Ergänzungen, bis das Ganze endlich einen Sinn ergibt.“ Die Stroh-Fangruppe mag das Buch, „weil es erstaunlich aktuell wirkt und der Autor für seine Zeit unheimlich fortschrittlich war“, findet Slawistin Maria.
Auf der Heimfahrt will Wilfried Stroh über eine Einladung als Conférencier bei Gladiatoren-Spielen im österreichischen Archäologiepark Carnuntum nachdenken. Reizen würde ihn der Auftritt durchaus, bei der Eröffnung vor Jahren hatte er in wallender Tunika den Philosophenkaiser Marc Aurel gespielt.