Proteste gegen Erdogan: Türkische Dialektik

Im Jahr 1967 reiste ich erstmals in die Türkei. Die Grenzer in Edirne freuten sich über meinen Namen, und weiter ging die Fahrt in einem klapprigen Bus auf Schotterpisten, vorbei an Eselskarren, Schafsherden und Autowracks. Wirtschaftlich gehörte das Land seinerzeit eher zur Dritten Welt als zu Europa – heute zählt es zu den Staaten, die sich mit atemberaubenden Tempo entwickeln. Das gelang aus eigener Kraft und mit so geringen Staatsschulden, dass jeder Bürger der Europäischen Union vor Neid erblassen muss.

Unter Erdogans Regierung hat sich die Türkei vom Agrarland in eine höchst bewegliche, auf Industrie, Dienstleistungen, Export und Wachstum ausgerichtete, nicht mehrheitlich, aber zunehmend städtische Gesellschaft verwandelt. Solche Prozesse sind mit erheblichem Stress für die Menschen verbunden, die über Nacht ihren tradierten bäuerlichen und handwerklichen Lebensrahmen sowie ihre alten Gewissheiten verlieren. Sie suchen Halt.

Die klassischen europäischen Angebote dafür hießen Nationalismus, Minderheiten- und Fremdenhass. Der unter Führung von Kemal Atatürk erkämpfte, am westlichen, namentlich französischen, Modell orientierte türkische Nationalstaat hat von diesen Mitteln Gebrauch gemacht – einschließlich des Völkermords an den Armeniern. Zudem unterwarf der kemalistische Staat seine Bürger einem auf das Militär gestützten, laizistischen Zwang: Statt der islamischen Religion und der osmanischen Vorgeschichte sollte allein die in der Person ihres Gründers vergottete moderne Türkei den inneren Zusammenhalt sichern.

Dieses mit Gewalt aufrechterhaltene Konzept schlug fehl und führte am Ende zur Wahl von Erdogans AKP. Erdogan hob die Religionsbeschränkungen auf und verflocht die Geschichte der heutigen Türkei wieder mit dem Osmanischen Reich. Dafür stehen zahllose Namensgebungen und das 2009 von ihm persönlich eröffnete, 3000 Quadratmeter große, gemalte Schlachtenpanorama, das die Eroberung von Byzanz durch osmanische Truppen im Jahr 1453 zeigt – ausgemalt mit mehr als zehntausend Figuren, orchestriert mit dem Wiehern der Rosse und wildem Kanonendonner.

Parallel zu dem auf nationalen Zusammenhalt bedachten Getöse des Stolzes auf eine lange und glanzvolle Geschichte mäßigte Erdogan die Politik gegenüber den Kurden nachhaltig und betrieb die wirtschaftliche Entwicklung des Landes mit zuvor nicht gekannter Wucht.

Auf der Basis ihrer doppelten – mit Atatürk und Erdogan verbundenen – Vorgeschichte lassen sich die derzeitigen Proteste in türkischen Städten möglicherweise besser verstehen. Sie sind gleichermaßen Kritik wie Folge der von Erdogan betriebenen wirtschaftlichen Modernisierung; keinesfalls zielen sie auf die Rückkehr zum Kemalismus.

Vielmehr geht es den Demonstrierenden und ihren Sympathisanten um das Erreichen einer dritten Stufe des gesellschaftlichen Selbstverständnisses: mehr Partizipation, Möglichkeiten zur Kontrolle staatlicher Entscheidungen, mehr Individualismus, mehr gesellschaftliche Differenz. Die Protestierenden stellen diese Forderungen, weil sie Nutznießer und Träger der Erfolge Erdogan’scher Politik sind – und weil sie diese Erfolge vor der autokratischen Erstarrung Erdogans schützen müssen.