Rachitis lässt sich durch ultraviolettes Licht heilen. Kurt Huldschinsky, ein Berliner Arzt, fand das im Winter 1918/1919 heraus: Er schickte die Kinder auf die Terrasse

Arthur war drei Jahre alt, als ihn sein Vater ins Krankenhaus brachte. Der Schlosser aus der Choriner Straße im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg machte sich große Sorgen, weil sein Sohn noch immer nicht aufrecht stehen konnte. Der Erste Weltkrieg war zwei Monate zuvor zu Ende gegangen, der kleine Junge litt an der Mangelkrankheit Rachitis.Die Symptome dieses Leidens, das die Knochen weich werden lässt, erkannten Mediziner damals auf einen Blick. Ein Säugling zum Beispiel, der sich beim Krabbeln mit den Armen abstützte, entwickelte verkrümmte Handgelenke. Bei älteren Kindern, die bereits laufen konnten, bogen sich die Waden unter der Last ihres Körpers. Schon immer war die Rachitis ein Zeichen von Armut gewesen. Nach dem Zusammenbruch des Kaiserreiches zeigte sich, dass fast jedes zweite Kind an der Krankheit litt.Kaum ein medizinisches Experiment ist daher von Schulmedizinern wie Naturheilkundlern gleichermaßen so gefeiert worden wie der Versuch, den der bis dahin völlig unbekannte Berliner Kinderarzt Kurt Huldschinsky im Winter 1918/1919 an Arthur und drei anderen Kindern vornahm. Es sollte der Durchbuch in der Behandlung der Rachitis werden.Nach einem Heilmittel war zuvor intensiv gefahndet worden. Im Prinzip war die Krankheitsursache bekannt: Den Knochen fehlte Kalzium. Man gab den Kindern das Mineral in hohen Dosen, doch nichts geschah. Das einzige, was ein klein wenig zu helfen schien, war Lebertran - aber der war teuer. Zudem konnte die ölige, nach vergammeltem Fisch riechende Flüssigkeit die Rachitis nur aufhalten; zu einer Besserung der Symptome führte sie nicht. Die Forschung kreiste um eine entscheidende Frage: Wie gelangt das Kalzium in die Knochen?Kurt Huldschinsky fiel schließlich etwas Entscheidendes an seinen kleinen Patienten auf. Er notierte es in der ersten Zeile einer jeden Krankenakte: Alle Kinder mit Rachitis waren auffallend blass. Der Mediziner setzte seinen Patienten daher große Brillen mit schwarzen Gläsern auf, wie sie von Schweißern benutzt werden, und setzte sie vor das gleißende Licht einer Quecksilber-Quarzlampe. Je zwei Minuten lang wurden die Kinder erst von vorne, dann von hinten mit UV-Licht bestrahlt. Tag für Tag steigerte Huldschinsky die Dosis, bis die Sitzungen zwanzig Minuten dauerten. Gleichzeitig gab er den Kindern die übliche Dosis Kalzium.Über den Erfolg seiner Therapie war Huldschinsky selbst erstaunt. Nach der ersten Behandlung von Arthur schrieb der Arzt in die Patientenakte: "Kind liegt grau im Gitterbett." Nach drei Monaten stand Arthur zum ersten Mal im Leben aufrecht in seinem Bettchen. Wie groß seine Fortschritte waren, bewies auch das Röntgenbild - Arthurs Knochen zeichneten sich darauf im Gegensatz zu früher deutlich ab. Huldschinsky war sich nun sicher, dass Rachitis durch UV-Licht geheilt werden kann. Am 8. Mai 1919 schrieb der Arzt mit großer Schrift in die Akte eines Patienten: "Beginn des Sonnenwetters". Er schickte die Kinder auf die Terrasse und beendete seine Versuchsreihe.Die Veröffentlichung seiner Entdeckung in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift wurde begeistert aufgenommen. Bald darauf richtete die AOK im ganzen Land Lichtbadeanstalten ein. Je zwanzig mit Schweißerbrillen ausgestattete Kinder bräunten sich dort unter heute noch futuristisch anmutenden Höhensonnen. Die Dresdner Jugendfürsorgestelle ließ Straßenlaternen demontierten, um sie als künstliche Höhensonnen einzusetzen, denn das Licht der damals üblichen Bogenlampen enthielt große Mengen UV-Strahlen. Zeitungen in aller Welt feierten Huldschinsky wie einen Helden. Von seinen Kollegen erhielt er Preise und Ehrungen, sogar für den Nobelpreis wurde er vorgeschlagen.Seine Lichttherapie brachte Forscher in Deutschland und den USA auf die richtige Spur: Sie fanden heraus, dass Vitamin D nötig ist, um Kalzium in die Knochen einzubauen. Eigentlich ist Vitamin D kein echtes Vitamin, da es im Gegensatz zu den anderen Vitaminen vom Körper selbst hergestellt werden kann. Es basiert - wie auch viele körpereigene Hormone - auf Cholesterin. Nur in der Haut jedoch, unter dem Einfluss von UV-Licht, wird Vitamin D in seine aktive Form umgewandelt. Wie dieser biochemische Prozess im Einzelnen abläuft, ist erst seit 1973 bekannt.Heute bekommen die meisten Säuglinge ihre tägliche Ration Sonne in Tablettenform verabreicht. 1928 kam Vigantol, ein künstlich hergestelltes Vitamin D, auf den Markt. Es wird seither von Kinderärzten als Schutz gegen Rachitis empfohlen. Eine Tablette Vigantol enthält etwa zwanzig Mal mehr Vitamin D als ein Löffel Lebertran.Weil Kurt Huldschinsky einer jüdischen Familie angehörte, musste er 1934 aus Deutschland fliehen. Die ärztlichen Vereine, die ihn mit Preisen geehrt hatten, kündigten ihm die Mitgliedschaft. Sein Name, zuvor ein Aushängeschild der deutschen Pädiatrie, wurde aus den Chroniken der Kinderheilkunde entfernt.Dem Kinderarzt Thomas Lennert ist es zu verdanken, dass Huldschinsky nicht endgültig in Vergessenheit geriet. Er suchte in alten Akten und befragte Freunde und Kollegen. So fand er heraus, dass Huldschinsky nach Ägypten emigriert war. Noch Ende der Dreißigerjahre veröffentlichte er kleinere Artikel in britischen Zeitschriften, dann verliert sich seine Spur. Lennert vermutet, dass Huldschinsky 1941 gestorben ist.In der quirligen Choriner Straße ist heute nichts mehr von dem Dunkel der Hinterhöfe zu spüren, in denen Kinder wie Arthur aufwuchsen. Die Entdeckung, dass Sonnenlicht vor Rachitis schützt, hat seit den Zwanzigerjahren auch die Stadtplanung beeinflusst. Es entstanden Freiflächen und helle Wohnungen. Was dem Stadtteil aber bis heute fehlt, ist ein sonniger Platz, der nach dem Kinderarzt Kurt Huldschinsky benannt ist.------------------------------Foto : Um ihre Knochen zu festigen, wurden Kinder in den Zwanzigerjahren und auch später noch mit UV-Licht bestrahlt.