Kindertherapeut Christian Lüdke: Warum Langeweile gut für Kinder ist

Wenn Kinder nichts mit sich anzufangen wissen, fangen Erwachsene schnell an, sie zu bespaßen. Warum das falsch ist, verrät ein Experte.

Wenn Kindern langweilig ist, kann viel Kreativität entstehen.
Wenn Kindern langweilig ist, kann viel Kreativität entstehen.imago

Mir! Ist! Laaangweilig! Wenn ein Kind das sagt, versetzt es Erwachsene meist in Alarmmodus. Man macht Vorschläge, bietet Spielzeug an, versucht sich als Bespaßer – und richtet damit womöglich größeren Schaden an, als dass es dem gelangweilten Kind nützt. Denn wer sich langweilt, muss seine Fantasie in Gang setzen, neue Dinge probieren und lernt so fürs Leben.

Dr. Christian Lüdke ist Kindertherapeut und hat zum Thema geforscht. „Langeweile ist ein sehr kreativer Prozess, der von den meisten Menschen total unterschätzt wird“, sagt der Vater zweier Kinder. Er kennt das Nörgeln, wenn der Nachwuchs nichts mit sich anzufangen weiß.

Anzeige | Zum Weiterlesen scrollen

Wer sich langweilt, fängt an nachzudenken

„Dabei ist Langeweile ein natürlicher Vorgang“, so der Experte und Buchautor. „Kinder sind es gewohnt, dass man ihnen sagt, was sie wann tun sollen: essen, schlafen, in Kita oder Schule gehen, sich mit Freunden treffen, die Oma besuchen. Fast alles wird von Erwachsenen bestimmt.“

Und dann kommt der Moment, in dem das Zimmer aufgeräumt ist, die Hausaufgaben erledigt, das Spiel beendet: „Da steht das Kind plötzlich ohne Aufgaben da. Es empfindet Langeweile, weil es feststellt, dass es gerade nichts zu tun gibt“, weiß Dr. Christian Lüdke. Hinzu kommt eine Verunsicherung, weil das Kind nicht weiß, ob es jetzt dieses oder jenes wirklich tun darf oder ob es erst fragen muss.

„Zur Langeweile gehört also auch viel Nachdenken“, sagt der Therapeut. „Wenn Eltern dann gleich das nächstbeste Spielzeug hervorholen, unterbinden sie genau diesen Prozess: das Nachdenken über die Situation und nachfolgende Momente.“

Besser ist es, gezielt offene Fragen zu stellen: Was möchtest du denn gern machen? Worauf hättest du Lust? Was denkst du, was dir Spaß machen würde?

Der Therapeut rät: „Trauen Sie Ihrem Kind zu, einen eigenen Weg aus der Langeweile zu finden. Kinder haben einen natürlichen Drang zu lernen und sich zu bewegen.“ Eins ist klar: Wer seinem Kind das Denken – und dazu gehört auch das Nachdenken, was mit Langeweile anzufangen ist – abnimmt, entmündigt es.

„Im schlimmsten Fall entstehen so Suchtpersönlichkeiten. Es ist wie beim Missbrauch von Suchtmitteln: Der Körper merkt sich das und fordert es immer wieder ein. Wenn das Kind also keine Langeweile kennt, entwickelt es statt Kreativität eine starke Abhängigkeit, wird unselbstständig, kann keine Eigeninitiative entwickeln“, sagt Dr. Christian Lüdke.

Als Erwachsener kann und soll man Anstöße geben, Impulse setzen, aber keine Handlungsanweisungen geben. Holen Sie also beim ersten Langeweile-Ruf nicht gleich die Bauklotzsammlung hervor!

Ihr Kind kommt sicher auf eigene Ideen. Vielleicht möchte es sich verkleiden? Dann öffnen Sie doch Ihren Kleiderschrank. Ein kostenloses Spiel ohne viel Aufwand, das Ihre Kinder lange begeistern wird. Und sie lernen dabei so viel: Wie weich Papas Pullover ist! Mamas Shirt ist ja ganz bunt. Und viel zu groß. Damit sehe ich ja aus wie eine Fledermaus.

„Das, was für uns Erwachsene das Geld ist, ist für Kinder das Spielen. Es ist ihre Währung“, weiß der Therapeut. „Sie handeln dabei Regeln mit Gleichaltrigen aus, machen Fehler und lernen daraus, schulen ihre motorischen Fähigkeiten – die Liste ist nahezu unendlich.“

Wenn Eltern jedoch als Animateur auftreten, unterbinden sie die kindliche Fantasie. Und die Folge ist, dass das Kind denkfaul wird. Es verlässt sich darauf, dass es immer neue Angebote bekommt. Nur leider lernt es dabei nicht wirklich etwas.

Das gilt insbesondere auch für elektronische Spielzeuge: Tastenhandys, die Zahlen laut aussprechen. Künstliche Musikinstrumente, die auf Knopfdruck eine Melodie abspielen. Kindertablets, mit denen man Eisenbahnschienen verlegen und Dörfer bauen kann. „Das ist alles ganz witzig, aber total sinnlos“, sagt Dr. Christian Lüdke.

Die Hersteller werben zwar damit, die Fantasie würde angeregt, Motorik geschult, das Lernen unterstützt. „Das stimmt aber nicht“, weiß der Experte. „Was die Kinder lernen ist: Knöpfe drücken, mit dem Finger umher wischen. Mehr nicht. Durch diese Geräte erfahren sie nichts über die Haptik von Holzeisenbahnen, Dreidimensionalität, Interaktion mit anderen Kindern, unterschiedliche Lautstärken, wenn man tatsächlich auf einer Gitarre zupft. All das ist aber wichtig, weil es neue Pfade im Hirn legt, neue Verknüpfungen möglich macht, ohne die ein Kind weder weiter lernen, noch an sich wachsen kann.“

Oder anders ausgedrückt: Kinder, die viel beschäftigt werden – ob durch Erwachsene oder elektronisches Spielzeug –, haben es bequem, lernen aber nicht, Probleme zu lösen. Etwa: Wie bleibt die Puppe auf dem Töpfchen sitzen ohne umzufallen? Wie viele Steinchen kann ich stapeln, ohne dass der Turm umfällt? Das Kind lernt hier beispielsweise etwas über Schwerkraft. Es bilden sich neue Synapsen, Erfahrungen werden abgespeichert und später wieder abgerufen.

Wer Langeweile beenden kann, ist intelligent

„Wer Probleme löst, gilt aufgrund dessen als intelligent und entwickelt sich besser, weil er eine Schlüsselqualifikation erworben hat. Wer hingegen nicht in der Lage ist, Probleme zu lösen, der läuft Gefahr, im späteren Leben nicht zurechtzukommen“, warnt Dr. Christian Lüdke und ergänzt: „Der Weg aus der Langeweile ist auch eine Form des Problemlösens. Wie googeln, nur eben krasser. Die Kinder müssen ihr gesamtes Vorstellungsvermögen in Gang setzen, nutzen ihr Hirn komplett aus, es rattert. Bei einem Konservenspielzeug passiert im Vergleich nichts.“

Aus der Forschung weiß man: Um körperlich und geistig fit zu bleiben, sollte man sich immer wieder neuen geistigen Herausforderungen stellen. „Wenn man aufhört zu denken, schrumpft das Gehirn“, so der Therapeut. „Darum sollten auch Erwachsene immer mal wieder etwas Ungewohntes machen, das das Gehirn anstrengt. Oder Langeweile zulassen und mit den Gedanken abschweifen. Pausen sind nämlich ebenso wichtig wie das Lernen!

Übrigens: Das Selberausprobieren funktioniert auch auf Kindergeburtstagen. Wer allerdings jedes Jahr mit neuen tollen Spielen, Hüpfburg oder Zaubershow aufwartet, darf sich nicht wundern, dass die Kinder nach immer mehr schreien.

Lüdke: „Der Spaß ist verständlicherweise groß, sollte aber wirklich nur zu ganz besonderen Anlässen, etwa zur Einschulung, angeboten werden. Alles andere bedeutet auch für Sie als Eltern Stress, denn im nächsten Jahr müssen Sie wieder etwas Beeindruckendes organisieren. Und lernen können die Kinder sowieso im Spiel miteinander. Beobachten Sie das mal ein paar Minuten: Sie werden überrascht sein, was denen alles so einfällt.“

*Christian Lüdke: „La Le Lu 2.0 – entspannt schlafen mit magischen Geschichten“, Verlag medhochzwei, 120 Seiten, ca. 20 Euro.