Long Covid & Fatigue-Syndrom: Mediziner erklärt, wie es dazu kommt und was hilft
Betroffene fühlen sich oft nicht ernst genommen, werden falsch behandelt. Wer unter chronischer Erschöpfung leidet, braucht spezielle Hilfe, sagt ein Facharzt.

Es ist nicht nur die lähmende Erschöpfung, die Betroffenen zu schaffen macht, sondern vielfach auch die Tatsache, dass ihnen nicht geglaubt wird. Nach dem Motto „Reiß dich doch mal zusammen“, wird Menschen, die unter einer chronischen Müdigkeit leiden, suggeriert, sie wären gar nicht wirklich krank.
Sie werden von Arzt zu Arzt geschickt, bekommen verschiedenste Medikamente und allerhand gut gemeinte Ratschläge. Besser geht es ihnen damit jedoch nicht – im Gegenteil. Der Leidensdruck nimmt immer mehr zu, weil zu den körperlichen Beschwerden eine extreme psychische Belastung hinzukommt. So als würde man sich all das nur einbilden.
„Das ist fatal“, findet Dr. Bernhard Dickreiter, Facharzt für Innere Medizin, Rehabilitative Medizin und physikalische Therapie. „Diese Form der Erschöpfung – das Chronic Fatigue-Syndrom, kurz CFS – ist ein ernst zu nehmendes Krankheitsbild und keine Einbildung. Oftmals werden Patientinnen und Patienten in die Psychosomatik abgeschoben, aber da haben sie nichts zu suchen.“
Es habe immer geheißen, dass man sich schon wieder erhole, wenn man sich nur ausreichend schone, so der Experte. „Aber das stimmt so nicht, ebenso wenig wie der Versuch fruchtet, sie mit Sport zu mobilisieren. Den Betroffenen wurde und wird viel Unrecht getan.“
Was sind Long Covid und das Chronische Fatigue-Syndrom?
Aus Sicht des Mediziners sind das Long-Covid-Syndrom (Beschwerden über Monate) und das Chronische Fatigue-Syndrom (CFS) zwei Namen für die gleiche Krankheit. „Ausgelöst wird sie meist durch eine zuvor durchgemachte virale Erkrankung, das daraus resultierende Krankheitsbild ist aber identisch und kann als Zellenergie-Defizit-Syndrom oder postvirales Erschöpfungssyndrom beschrieben werden“, erklärt Dickreiter.
Bei dieser Erkrankung sind die Betroffenen kaum noch belastbar und sehr schnell erschöpft. Selbst kleinste Alltagserledigungen können sie buchstäblich aus der Bahn werfen, sodass sie sich schlafen legen müssen – Fatigue ist das französische Wort für Ermüdung.
„Das Problem ist, bildlich gesprochen, dass die Batterien nicht mehr aufgeladen werden. Gesunde Menschen regenerieren sich schnell, haben nach kurzen Ruhephasen oder spätestens über Nacht wieder neue Energie. Das funktioniert bei Menschen mit dem Long-Covid-Syndrom beziehungsweise dem CFS nicht“, so der Arzt.
Das klassische Symptom dieses Erschöpfungssyndroms ist eine „extreme Belastungsintoleranz, deren Grenze nicht überschritten werden darf und die individuell verschieden ist“, weiß der Fachmann. „Geht man doch zu weit, kommt es zu einem sogenannten Crash, einem Zusammenbruch. Dieser Zustand kann Tage, Wochen, Monate dauern. In dieser Zeit liegt man quasi nur im Bett.“
Deshalb sei es Gift, die Betroffenen durch gezielte Belastungen fördern zu wollen, denn diese führe fast unweigerlich zu einem Crash. Unbedingt notwendig sei es, „den Umgang mit den eigenen Ressourcen einschätzen zu lernen“, sagt Dickreiter. „Das nennt man Pacing.“
So wird das Erschöpfungssyndrom diagnostiziert
Am Anfang steht immer die Diagnose. „Es ist wichtig, dass Betroffene sich ernst genommen fühlen. Dazu braucht es Zeit, man muss gut zuhören. Leider ist es aber auch Realität, dass Hausärztinnen und Hausärzte diese Zeit oftmals nicht haben, weil die Praxen überlastet sind“, weiß Dickreiter.
Um der Diagnose einen Schritt näher zu kommen, könne man die Handkraft messen, sagt der Fachmann: „Da hält man einen Haltegriff, der an einer Feder hängt. Man misst jede Stunde über insgesamt sechs bis acht Stunden die Handkraft. Ein Messgerät zeichnet auf, wie viel Kraft man dafür hat. Beim Gesunden bleibt die Kraft Stunde für Stunde konstant gleich.“
Bei Betroffenen ist es so, dass die Kraft über die Zeit immer weniger wird. „Beim gesunden Menschen bilden die Mitochondrien in den Zellen permanent neue Energie. Das, was verbraucht wird, wird neu gebildet. Dieser Mechanismus funktioniert bei Menschen mit Long-Covid-Syndrom oder CFS nicht mehr. Sie verbrauchen Energie, aber sie können sie nur langsam nachbilden. Daher die bleierne Ermüdung“, beschreibt Dr. Bernhard Dickreiter.
Mitochondrien sind Zellbestandteile und unsere Energiekraftwerke. Sie sind in jeder menschlichen Zelle und bilden das sogenannte ATP, die biochemische Grundlage für unsere Energie. Die benötigte Menge ATP pro Tag entspricht „etwa dem Körpergewicht des jeweiligen Menschen“, schreibt der Mediziner in seinem aktuellen Buch. Die Mitochondrien sind jedoch sehr empfindlich, können etwa durch eine Viruserkrankung geschädigt werden, sodass sie nicht mehr richtig arbeiten können. Und dann wird zu wenig ATP produziert. Die Folge: absolute Erschöpfung.
Weiter heißt es in dem Buch: „Eine Zelle ohne ausreichend funktionstüchtige Mitochondrien ist buchstäblich wie ein Handy mit einem schwachen Akku, das sich nicht mehr voll aufladen lässt. Dieses Bild entspricht den oft vorgetragenen Schilderungen von Chronic-Fatigue-Syndrom- bzw. Long-Covid-Syndrom-Patienten über ihr Krankheitsgefühl: ‚Mein Akku ist leer und lädt sich nicht mehr auf.‘ Für diese bildhafte Darstellung bietet sich in der Medizin der Begriff Zellenergie-Defizit-Syndrom an.“
Der ATP-Wert der Zellen kann nach einer Blutentnahme in den weißen Blutkörperchen bestimmt werden. „Das ist eine sehr genaue Methode, die jedoch selbst bezahlt werden muss, denn die Krankenkassen übernehmen die Kosten nicht“, so Dickreiter. Rechnen muss man für diese Bestimmung und weitere sinnvolle Laborwerte mit etwa 400 bis 500 Euro.
Weiterhin bietet sich die sogenannte Spiroergometrie an. Hierzu setzt man sich auf ein Ergometer, also ein fest installiertes Fahrrad, oder an läuft auf einem Laufband. Während man strampelt oder läuft, trägt man eine Atemmaske, die sowohl den Sauerstoff- als auch den Kohlendioxidgehalt des Atems misst, also das Ein- und Ausatmen überwacht.
„Dabei sieht man sehr genau, wann die Belastungsgrenze erreicht ist, und in der Folge kann man sehr genau sagen, wozu dieser Patient oder diese Patientin noch in der Lage ist. Beim Erschöpfungssyndrom muss man da sehr vorsichtig vorgehen, um keinen Crash zu provozieren“, so der Mediziner.
Die Spiroergometrie wird von Fachpraxen für Sportmedizin, Pulmologie oder Kardiologie durchgeführt.
Kann man Long Covid und das Fatigue-Syndrom heilen?
Noch ist nicht klar, weshalb die Mitochondrien ihren Dienst quittieren. Es gibt in der Medizin Vermutungen, die sich um einen Mikronährstoffmangel, erhebliche Stressbelastungen und Autoimmunerkrankungen drehen. Die Virusinfektion, so scheint es zu sein, befeuert das Ganze.
„Eine eindeutige Erklärung für diese ausgeprägte Form der Erschöpfung gibt es in der Wissenschaft noch nicht. Es ist gut möglich, dass es unterschiedliche Ursachen und Ursachenmuster sind, die diese Krankheit auf den Weg bringen“, so Dr. Bernhard Dickreiter. „Deshalb ist es leider auch unmöglich, einen sicher funktionierenden Plan zu definieren, der Betroffene heilt.“ Wirklich gesund, so wie vorher, werden nur die wenigsten. Man kann aber Besserungen erreichen.
Um wieder auf die Beine zu kommen, ist es elementar, seine individuelle Belastungsgrenze zu kennen und diese nicht zu überschreiten. Denn das würde Sie zurückwerfen. Ansonsten gilt: Ernähren Sie sich ausgewogen und gesund. Achten Sie auf ausreichend Eiweiß und Ballaststoffe.
„Außerdem sollte man genau schauen, wie es mit der Versorgung mit Mikronährstoffen aussieht, denn diese haben großen Einfluss auf unseren Stoffwechsel“, erklärt der Mediziner. „So sollte beispielsweise der Vitamin-D-Spiegel stimmen. Das Vitamin lässt nämlich unter anderem die Immunzellen reifen.“
Jede Arztpraxis kann übers Blut den Vitamin-D-Spiegel bestimmen lassen. In der Regel ist das eine Selbstzahlerleistung (ca. 30 bis 40 Euro), aber so weiß man, ob die Werte im Normbereich liegen oder man nachjustieren sollte. Im Winter kann man mit Tabletten gegensteuern, von Mai bis Ende September sollte man mittags eine halbe Stunde lang spazieren gehen. So kann der Körper ausreichend Vitamin D bilden.
Ebenso wichtig sind Magnesium und Vitamin C. Beide kann man als Nahrungsergänzungsmittel zu sich nehmen. Sie sind wasserlöslich und reichern sich nicht im Körper an. Das, was nicht verwertet werden kann, scheidet man wieder aus.
Um wieder gesund zu werden, brauchen Erschöpfungsbetroffene eine ganzheitliche Behandlung. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die wenigsten von ihnen wieder gänzlich genesen und ein Leben wie früher führen können. Vielversprechend ist der Ansatz, genau zu schauen, was es braucht, damit es den Zellen, insbesondere den Mitochondrien gut geht.
Es ist also wichtig, mehrere Maßnahmen miteinander zu kombinieren: Stress reduzieren, sich der individuellen Toleranz gemäß bewegen, viel trinken, Giftstoffe (Alkohol, Nikotin) vermeiden. Ebenso ist es ratsam, eine Darmsanierung in Angriff zu nehmen und darauf zu achten, sich frisch zu ernähren, weil in Fertigprodukten Zusatzstoffe stecken, die schädlich für den Darm sind.
Überhaupt ist eine antientzündliche Ernährung ratsam, weil schwelende Entzündungen im Körperinneren generell großen Einfluss auf unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden haben. Ernähren Sie sich nach mediterranem Vorbild und vermeiden Sie einfache Kohlenhydrate wie sie in Süßigkeiten und Weißmehlprodukten stecken, also jegliche Backwaren und Nudeln, die nicht Vollkorn sind.
Essen Sie möglichst fetten Fisch (Lachs, Makrele, Hering). Dieser enthält die lebenswichtigen Omega-3-Fettsäuren (DHA, EPA), die antientzündlich wirken. Diese essenziellen Fettsäuren stecken zwar zum Beispiel auch in Leinsamen, Lein- und Nussöl, jedoch nur in geringen Mengen.
Milch sollten Sie hingegen reduzieren. Sie steht im Verdacht, Entzündungen zu fördern, was aber für fermentierte Produkte (Joghurt, Quark etc.) nicht gilt.
„Insgesamt können all diese Maßnahmen dazu führen, dass es Betroffenen besser geht. Es kann keineswegs schaden, die Selbstheilungskräfte zu unterstützen“, sagt Dickreiter. „Wichtig ist es, das Vorgehen genau mit einem Arzt oder der Ärztin abzustimmen und überwachen zu lassen.“ Hilfreich kann es sein, ein Protokoll zu führen, wie es einem geht, was man wann gegessen, welche Bewegungen man unternommen hat.
So lassen sich vielleicht Ursache und Wirkung herausarbeiten, lässt sich erkennen, was gut und was schlecht ist. In jedem Fall gilt: Setzen Sie sich nicht unter Druck! Vielleicht mögen Sie sich fürs Seelenheil eine Selbsthilfegruppe suchen. Das mag banal klingen, kann aber durchaus helfen. Allein die Erfahrung, nicht allein mit dem Problem zu sein, kann psychisch stabilisieren. Auch das ein Baustein, der dazu beitragen kann, sich wieder besser zu fühlen.
*Dr. Bernhard Dickreiter: Raus aus der chronischen Erschöpfung. Herbig-Verlag, 208 Seiten, 22 Euro