Warum ist es so schwer, einen Therapieplatz für ein Kind zu bekommen?

Viele Absagen, monatelanges Warten, wachsende Not: Immer mehr Kinder brauchen eine Psychotherapie, aber es gibt kaum freie Plätze. Warum? Was können Eltern tun?

Allein auf weiter Flur: Wenn Kinder psychologische Betreuung brauchen, müssen sie sich lange gedulden.
Allein auf weiter Flur: Wenn Kinder psychologische Betreuung brauchen, müssen sie sich lange gedulden.imago/Uwe Umstätter

Spätestens durch die Pandemie ist klar geworden: Es werden dringend mehr Kinder-Therapieplätze benötigt. Die Zahl psychisch belasteter Kinder steigt seit Jahren, durch Corona ist sie nochmals deutlich in die Höhe geschnellt. Expertinnen und Experten sehen diese Entwicklung mit großer Sorge.

Warum das Aufstocken von Therapieplätzen so schwer ist und weshalb es zu wenige niedergelassene Fachleute gibt, erklärt Marion Schwarz, stellvertretende Vorsitzende beim Bundesverband der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten und -therapeutinnen (BKJ).

Kinder und Jugendliche bringen, was die Psychotherapie angeht, einige Besonderheiten mit: Erstens können sie in der Regel nur nachmittags therapiert werden, weil sie vormittags in der Schule sind, was ebenso wichtig ist. Deshalb sind die Zeitfenster, in denen die Fachkräfte arbeiten können, kleiner als bei Erwachsenen, die auch abends kommen können oder vormittags, wenn sie in Gleitzeit arbeiten.

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Darüber hinaus können Minderjährige ihre Gedanken und das Erlebte noch nicht so in Worte fassen wie Erwachsene, die sich in Therapie begeben. Auch eine kinderpsychotherapeutische Behandlung kann sich langwierig gestalten, weshalb ein Platz länger belegt ist und nicht so schnell frei wird. Die Folge: Teilweise müssen Kinder und Jugendliche monatelang auf einen Therapieplatz warten. Das ist tragisch, denn in der Zeit wird ihr Leiden im Zweifel nicht behandelt.

Warum gibt es nicht mehr Therapeuten für Kinder?

Auf der Website des BKJ steht unter den FAQs: „Die Niederlassung als Psychotherapeut (wie auch bei den Ärzten) unterliegt Regelungen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) und der Krankenkassen (sogenannte Bedarfsplanung), in der eine bestimmte Verhältniszahl einer gewissen Region zwischen Bevölkerungsdichte und Arzt festgelegt wurde. Dies bedeutet, dass man sich als Psychotherapeut nicht frei niederlassen kann, sondern einen Antrag beim zuständigen Zulassungsausschuss stellen muss. Die meisten Bezirke in Deutschland sind für neue Niederlassungen gesperrt.“

Die Regularien sehen aktuell vor, dass in der Stadt ein Therapeut auf 3000 Einwohner kommt, auf dem Land ist das Verhältnis 1:5000 bis 6000. Marion Schwarz, selbst Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin: „Diese Muster wurden vor Jahrzehnten etabliert und seither nicht mehr angepasst. Dabei muss man auch sagen, dass diese Bedarfsplanung nie einen tatsächlichen Bedarf ermittelt hat, sondern dass sie einfach mit Inkrafttreten des Psychotherapeutengesetzes 1999 festgelegt wurden.“ Es gibt also eine bestimmte Anzahl an Therapieplätzen, sprich Zulassungen. Diese Zahl ist unumstößlich. In der Folge können junge Kolleginnen und Kollegen nicht therapieren, wenn alle Kassensitze durch ältere belegt sind – es sei denn, sie gehen in die Krankenhäuser, arbeiten bei NGOs oder in der Wirtschaft.

Erst 1999 wurden die Leistungen der Psychotherapeutinnen und -therapeuten offiziell in den Leistungskatalog der Krankenkassen aufgenommen. Hierzu konnten alle, die eine ausreichende psychotherapeutische Qualifikation nachweisen konnten, eine Zulassung beantragen. All jene, die ihren Antrag im Zeitraum von Januar bis August 1999 bewilligt bekommen hatten, erhielten einen Kassensitz. Die Zahl der Zulassungen wurde damals als 100 Prozent festgelegt.

Seither gab es nur unzureichende Anpassungen in Bezug auf eine wachsende Bevölkerung sowie eine zunehmende Sensibilität für psychische Erkrankungen, sagt Dr. Dietrich Munz, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer (BPTK): „Am 31. August 1999 wurde die Anzahl der bis dahin zugelassenen Psychotherapeut:innen gezählt und zum Bedarf erklärt. Es gab jedoch keine rationale Begründung dafür, warum diese Anzahl an Therapeutinnen und Therapeuten ausreichend sein sollte. Sie war von Anfang an viel zu niedrig.“

Aktuell sieht es so aus in Deutschland: Insgesamt gibt es laut Psychotherapeutenkammer 11.610 Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten und -therapeutinnen, davon 6671 zugelassene. Bei den zugelassenen übernehmen die Krankenkassen die Kosten für die Therapie. Eine Therapiestunde kostet die gesetzlichen Krankenkassen im Schnitt rund 120 Euro, die privaten Kassen circa 100 Euro. Normalerweise geht man einmal pro Woche zur Behandlung, und das mindestens drei bis sechs Monate. Die restlichen knapp 5000 Therapeutinnen und Therapeuten arbeiten vor allem als Angestellte, etwa in Krankenhäusern, Beratungsstellen und Jugendhilfeeinrichtungen.

Kassenärztliche Vereinigung: keine weiteren psychotherapeutischen Sitze

In Berlin haben derzeit „267 Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut:innen (KJP) einen entsprechenden Versorgungsauftrag“, teilt die Kassenärztliche Vereinigung (KV) Berlin auf Nachfrage mit und ergänzt: „Es gibt keinen eigenen Versorgungsgrad für KJP. Diese fließen in den Versorgungsgrad für Psychotherapeut:innen ein, der aktuell bei 174,3 Prozent liegt.“ Deshalb sei der Bedarf in Berlin „mehr als gedeckt“, so die KV. Und weiter: „Der auf der Grundlage der gesetzlichen Vorgaben erstellte Bedarfsplan weist aktuell eine starke Überversorgung aus.“ Darum „ist davon auszugehen, dass derzeit keine weiteren psychotherapeutischen Sitze entstehen werden.“

Konkret bedeutet das, dass der Versorgungsgrad für Kinder und Jugendliche nicht erfasst werde, man aber aufgrund der miteingerechneten Erwachsenen-Therapieplätze davon ausgeht, dass der Bedarf in Berlin gedeckt ist. Laut Landesamt für Statistik leben in Berlin rund 605.000 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Für sie gibt es also 267 Therapeutinnen und Therapeuten, die ihre Leistung mit der Krankenkasse abrechnen können. Das Verhältnis ist demnach ungefähr 1:2266, mithin im Rahmen der Vorgaben. Einzig: Die Realität, die viele Eltern und Fachleute erleben, ist eine gänzlich andere.

BPTK-Präsident Munz erklärt: „Über spezielle Zahlen zu den Wartezeiten bei psychisch kranken Kindern und Jugendlichen verfügen wir nicht. Wir haben aus den Praxen jedoch Rückmeldungen, dass die Anfragen mit der Corona-Pandemie besonders bei Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut:innen stark angestiegen sind. Die Wartezeiten sind insbesondere in sozialen Brennpunkten, aber auch in ländlichen und strukturschwachen Regionen sehr lang.“

Monatelanges Warten auf die Psychotherapie für Kinder

Harte Fakten gibt es hingegen zu den durchschnittlichen Wartezeiten für alle Altersgruppen, und die sprechen eine deutliche Sprache: Die aktuellsten Zahlen zu den Wartezeiten stammen aus dem Jahr 2019 – also dem Jahr vor der Pandemie. Bereits zu diesem Zeitpunkt stellte die Psychotherapeutenkammer fest, dass „psychisch kranke Menschen inakzeptabel lange auf eine notwendige Behandlung“ müssten.

Die Kammer hatte mehr als 300.000 Versichertendaten ausgewertet. Ergebnis: „40 Prozent der Patient:innen (warteten) mindestens drei bis neun Monate auf den Beginn einer Behandlung, wenn zuvor in einer psychotherapeutischen Sprechstunde festgestellt wurde, dass sie psychisch krank sind und deshalb behandelt werden müssten.“

Und weiter heißt es auf der Website: „Nach einer Umfrage der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung vom Januar 2021 erhielten niedergelassene Psychotherapeut:innen deutlich mehr Anfragen als im Januar 2020. Stellten Patient:innen im vergangenen Jahr im Schnitt 4,9 Anfragen pro Woche, waren es 2021 6,9. Allein der Anteil an Psychotherapeut:innen, die mehr als zehn Anfragen pro Woche erhielten, verdoppelte sich dabei.“ Ähnliche Erfahrungen machten und machen Behandelnde, die auf Kinder- und Jugendliche spezialisiert sind.

„Das Problem ist ja: Es gibt genügend junge Kolleginnen und Kollegen, die in die Praxis wollen, aber nicht können. Erst wenn jemand Etabliertes in Teilzeit oder in Rente geht, wird eine Zulassung frei, die man abtreten kann. Alternativ könnte man jemanden Vollzeit einstellen, aber man darf dann nur fünf Prozent mehr mit den Kassen abrechnen. Und wer kann denn von einer Fünf-Prozent-Stelle leben? Also muss man selbst mit den Stunden runtergehen und sich eine Arbeitsstelle mit jemandem teilen. Auch das kann sich nicht jeder leisten“, so Marion Schwarz.

Die Therapeutin ärgert sich wie viele Fachleute über die Bedarfsplanung, die an der Realität vorbeigehe: „Dass Radiologiepraxen mit ihren wahnsinnig teuren Geräten und der großen Zahl an Fachkräften nicht in jeder Kleinstadt vorgehalten werden können, weil es unwirtschaftlich wäre, erschließt sich jedem. Aber wir Psychotherapeuten sehen unsere Klientinnen und Klienten in der Regel jede Woche, da sind lange Anfahrtswege, wie es ihnen die Bedarfsplanung vor allem auf dem Land derzeit aufnötigt, eigentlich unzumutbar.“

Lange Wartelisten bei Kindertherapeuten

Aktuell hat Marion Schwarz mehr als 20 Kinder oder Jugendliche auf ihrer Warteliste, ein Therapiebeginn ist daher erst im nächsten Jahr realistisch. Viele andere Kollegen und Kolleginnen nehmen nicht einmal mehr in die Warteliste auf. „Ständig rufen verzweifelte Eltern an, weil sie einen Therapieplatz für ihr Kind brauchen und trotz intensiver Suche nur vertröstet werden“, fasst Marion Schwarz die Lage zusammen. „Der Druck ist wahnsinnig groß und könnte aufgefangen werden, wenn die Politik sich endlich dazu entschließen würde, dass wir Psychotherapeuten mehr mit den Kassen abrechnen dürften. Fachkräfte gibt es genug, daran liegt es nicht.“

Im Juni letzten Jahres hatte Marion Schwarz bei der Kassenärztlichen Vereinigung einen Antrag gestellt, ihren Sitz erweitern zu dürfen, weil der Andrang so groß ist. Sie selbst wollte mit den Stunden runtergehen, um eine Kollegin einstellen zu können. „Aber dann musste ich erst einmal bei den Kollegen im Umfeld nachfragen, ob es bei denen auch so ist, dass sie mehr Therapieanfragen haben, als sie bewältigen können. Das musste ich dann mithilfe eines Rechtsanwaltes formulieren und einen Sonderantrag stellen, es ist zum Haareraufen“, so die BKJ-Expertin.

Dabei, so Marion Schwarz, ist gerade bei Kindern eine frühzeitige Intervention wichtig: „Wenn man eine Störung zeitig therapiert, reichen meistens 20 bis 40 Sitzungen aus. Wenn es sich jedoch chronifiziert, weil das Kind zu lange auf eine Therapie warten muss, kann die Behandlung zwei bis drei Jahre dauern. Das ist doch für das Kind und seine Familie furchtbar, und es kostet auch noch viel mehr Geld.“

Was können Eltern tun, die eine Therapie für ihr Kind benötigen?

Psychotherapeutinnen und -therapeuten sind dazu verpflichtet, ein Erstgespräch anzubieten. „Bei einem vollen Sitz sind das zwei Wochenstunden, die man frei halten muss, bei einem halben Sitz eine Wochenstunde“, so Marion Schwarz. Bei diesem Gespräch kann zumindest erörtert werden, ob tatsächlich eine Therapie vonnöten ist oder ob nicht eher die Erziehungshilfe hinzugezogen werden sollte.

„Bei mir sind diese Termine die nächsten drei Monate alle ausgebucht, und ich habe noch etwa acht Menschen auf der Warteliste. Und es ist jetzt schon klar: Ich werde die nicht alle behandeln können, sondern nur einen kleinen Teil von ihnen, weil ich keine ausreichenden Kapazitäten habe beziehungsweise anbieten darf“, so Marion Schwarz.

Wer als Eltern solch ein Erstgespräch benötigt, kann entweder die Fachleute in seiner Umgebung abtelefonieren oder aber man wendet sich an die Terminservicestellen der Kassenärztlichen Vereinigungen. Diese vermitteln Termine, allerdings kann man sich dann weder den Tag noch die Örtlichkeit aussuchen.

„Ich empfehle darüber hinaus, bei Ausbildungsinstituten, Hochschulambulanzen, schulpsychologischen Diensten oder sozialpädiatrischen Zentren nachzufragen und um Hilfe zu bitten“, sagt die Therapeutin. „Und ich rate dazu, sich bei den Kassenärztlichen Vereinigungen oder den Krankenkassen zu melden und auf den Notstand hinzuweisen.“