Rudolf Herrnstadt war Chefredakteur der Berliner Zeitung und des Neuen Deutschland. Nach dem 17. Juni fiel er als Parteifeind in Ungnade: Aufstieg und Fall eines Kommunisten
Das passierte dem Neuen Deutschland nicht oft: Begeisterung, echte Begeisterung für einen Artikel - vor allem bei jungen Kommunisten. Am 19. November 1948 erschien im ND ein Beitrag unter der Überschrift "Über die Russen und über uns". Rudolf Herrnstadt, Chefredakteur der Berliner Zeitung, sprach innere Zweifel im Zentralorgan zu einem Zeitpunkt an, als die Stimmung für die Sowjets einen Tiefpunkt erreicht hatte: Ihre Zone wurde bolschewisiert, West-Berlin mit einer Blockade überzogen; die Erinnerung an vergewaltigende und stehlende Rotarmisten, Verhaftungen und Lager, die den Sowjets anhing, überdeckte die Befreiung vom Nationalsozialismus. Parteioffiziell alles Tabuthemen. Und nun dieser Artikel: Unglaublich allein die Bezeichnung "Russen", unglaublicher noch Sätze wie dieser: Die Rote Armee "kam in klobigen Stiefeln, an denen der Dreck der Historie klebte, entschlossen, entzündet, gewarnt, geweitet, in Teilen auch verroht - jawohl, in Teilen auch verroht." Seitdem ist die Erinnerung an Rudolf Herrnstadt vor allem mit diesem Artikel verknüpft. Und mit seinem Sturz als angeblicher Parteifeind nach dem 17. Juni 1953.Die Urteile über den ehemaligen Chefredakteur Herrnstadt sind gespalten, entbehren teilweise nicht einer gewissen Skurrilität. Noch zu seinen Lebzeiten wählte ihn eine westdeutsche maoistische Gruppe zu ihrem Heiligen: "Wir schwören dir, Genosse Herrnstadt, dass wir unsere Kräfte und unser Leben nicht schonen werden, um dein Gebot in Ehren zu erfüllen!" Rudolf Herrnstadt, 1903 in einer bürgerlich-jüdischen Familie in Gleiwitz geboren, arbeitete als Lektor und versuchte sich als Schriftsteller. Ab 1928 war er Umbruchredakteur beim Berliner Tageblatt, bekannte sich als Kommunist. Als Auslandskorrespondent des Tageblattes in der Tschechoslowakei wurde die sowjetische Militärspionage auf ihn aufmerksam, verpflichtete ihn 1930 in Prag. In Warschau dann baute er eine der bedeutendsten Spionageresidenturen auf, mit hochkarätigen Agenten. In Moskau galt Herrnstadt als "prinzipientreuer Kommunist", der seine Aufträge "stets zuverlässig" erfüllt; der als Chefredakteur der Berliner Zeitung noch mindestens bis 1947 als Resident ein Netz in den westlichen Zonen unterhielt - er war ein Jahrhundertagent.Rudolf Herrnstadt gehörte zu den ersten Moskauer Emigranten, die nach der Befreiung nach Deutschland zurückkehrten. Mit dem Berliner Verlag schuf er einen "Pressekonzern", der mehrere Zeitungen und auch Bücher herausgab. Dennoch war das SED-Mitglied in der Öffentlichkeit kaum bekannt. Das änderte sich durch den Artikel "Über die Russen und über uns". Als er ab Mai 1949 das ND übernahm, ließ er Sätze ins Blatt heben, die während der Hochzeit des Stalinismus undenkbar schienen. Freilich bewegte sich Herrnstadt, Mitglied des Zentralkomitees und Politbürokandidat, im Rahmen der vom marxistisch-leninistischen Kanon gesetzten Grenzen. Was ihm allerdings fehlte, war der Stallgeruch der Funktionäre. Dieser "Mangel" gab seinen Artikeln Frische. Er kritisierte administratives Vorgehen, Buchstabengelehrtheit und Dogmatismus. Dies ließ ihn zu einem Feind der Apparatschiks werden. Das wusste Walter Ulbricht, und darum förderte er Herrnstadt. Obgleich selbst Apparatschik, war ihm dessen Feder recht, "störten" doch nicht selten Apparatschiks Ulbrichts Intentionen. Erst als die Kritik auch Ulbricht galt, wurde Herrnstadt auch für ihn ein Feind.Was war der Hintergrund? Nach Stalins Tod waren die im Kreml Regierenden plötzlich besorgt über die Entwicklung der DDR. Die Arbeiter zeigten keine Begeisterung für den Sozialismus, vielmehr flohen Hundertausende in den Kapitalismus. Den Anfang Juni 1953 nach Moskau einbestellten SED-Größen wurde ein "Neuer Kurs" verordnet. Und: Ulbrichts Stellung stand zur Disposition. Die Arbeiter wurden nun von einem "Fieber" anderer Art gepackt. Mit dem 17. Juni wurden die Karten neu gemischt.Am 8. Juli 1953 wendete sich auf Wunsch Moskaus das Blatt erneut. Nun wurde Ulbricht wieder stabilisiert, der alte Kurs mehr oder weniger fortgesetzt. Die dem Politbüro der SED von den Sowjets verordnete Wendepolitik vom Juni 1953 wurde kurzerhand unter anderem auf Herrnstadt reduziert und personalisiert. Es wurde die Legende verbreitet, Herrnstadt habe eine "Fraktion" gebildet. Aus den Entwürfen für den Beschluss, Herrnstadt aus der SED auszuschließen, was im Januar 1954 erfolgte, ist zu ersehen, dass Ulbricht selbst verschärfende Formulierungen hineinredigiert hatte. Er fügte ein, dass ein "innerparteilicher Putschversuch" durchgeführt worden sei. Im Juli 1953 verlor Herrnstadt alle Ämter und wurde in ein Merseburger Archiv verbannt. Er verstarb parteilos 1966. Im Herbst 1989 erfolgte eilig die Rehabilitierung. So skandalös es war, den "Sowjetmenschen" Herrnstadt zum "Parteifeind" zu stempeln, so sorglos wurde er rehabilitiert: Nur zufällig erfuhr die Familie davon - ein Jahr später.Der Autor ist Historiker in der Birthler-Behörde.BERLIN PICTURE GATE,/MOLL Rudolf Herrnstadt, Kommunist, Geheimagent, Journalist