Rücksicht: Wenn die Zeit drängt und der Stress zunimmt
Aggressivität im Straßenverkehr hat viele Ursachen / Psychologen raten zu mehr Gelassenheit
Ob bei Autofahrer, Radler oder Fußgänger – das Unterwegs-Sein in der Stadt findet im Regelfall nicht zum Selbstzweck statt. Zumeist geht es um die Aktivität am Ende des Weges. Es liegt also nahe, dass man dem Zweck einer Reise eine größere Priorität zubilligt als dem Weg zum Ziel. In der Folge kalkuliert der Reisende – gerade in Zeiten großer Arbeitsverdichtung – die Minuten unterwegs eher knapp. Häufig führen solchermaßen erzeugte Eile und Hetze zu Stress, der wiederum eine Grundlage für Aggressionen bildet.
Allerdings, das Missmanagement in Reisezeitfragen scheint das Phänomen mieser Laune im Straßenverkehr nur bedingt zu erklären. Wie die Diskussionen auf dem jüngsten Verkehrsgerichtstag in Goslar zeigen, liegen die Dinge offenbar tiefer. In einer Art Fundamentalkritik warnte der Automobil Club Europa (ACE): „Es sollte allen klar sein, je lieber wir uns in einem einzig auf Tempo, Konkurrenz, Vorteil und Rendite gedrillten Gesellschaftssystem bewegen, desto mehr ungeliebte Rambos tummeln sich auf unseren Straßen.“
Entgleiten von Kontrolle
Oft hat man es nicht selbst in der Hand, entspannt ans Ziel zu kommen: „Im Straßenverkehr passiert es beinahe jede Sekunde, dass die eigenen Intentionen von anderen Verkehrsteilnehmern durchkreuzt werden“, sagt Unfallforscher Siegfried Brockmann.
Zeitverluste erleben viele Verkehrsteilnehmer als ein Entgleiten von Kontrolle und Selbstbestimmung. In solchen Situationen erleben sich die meisten als hilflos und ohnmächtig, erklären Verkehrspsychologen.
Darauf wiederum reagieren nicht wenige hinterm Steuer und am Lenker mit Wut und Zorn als einer Form der Selbstbehauptung. Die typische Reaktion, um sich Bewegungsfreiheit vermeintlich zurückzuerobern. Das könne „in Extremsituationen“ jedem passieren, meint der Verkehrspsychologe Karl-Friedrich Voss.
Die Aggressionserklärung gilt mehr oder weniger für alle Verkehrsteilnehmer. Besonders jedoch verhält es sich mit dem Verhältnis Autofahrer-Radler: Da konkurrieren zwei ähnliche Freiheitsgedanken um ihren Platz und
zunehmend auch ihre Vormachtstellung auf der Straße. Als Erbe der Kutsche lebt das Automobil einen „Tagtraum vom hochherrschaftlichen Transport“. Viele Verkehrsregeln über Jahrzehnte geformt, gehen stillschweigend von seiner begründeten Vorherrschaft aus. Ampelphasen, Abbiegevorschriften, Vorfahrtsregelungen – und sogar der ungleich verteilte Verkehrsraum in der Stadt werden durch eine stetig wachsende
Radfahrerzahl infrage gestellt.
Diese Situation hat das umstrittene Phänomen des „Kampfradlers“ hervorgebracht. Das sind jene Zweirad-Desperados, die sehr gut zur These des Wissenschaftlers Andreas Knie vom Berliner Innovationszentrum für Mobilität und gesellschaftlichen Wandel passen, der sagt: „Der öffentliche Raum muss völlig neu aufgeteilt werden.“ Der Kampf darum habe gerade begonnen. Aber so „ungerecht“ die Verteilung auch sein mag, im „Freiheitskampf“ der Pedal-Anarchos spiegeln sich womöglich nur zu bekannte Muster. So wie das Auto ist auch das Rad für manchen Fahrer längst Teil seiner psychischen Ausstattung. Eine Art verlängertes Ego, wie der Dresdner Verkehrspsychologe Bernhard Schlag sagt. Ein Selbst-Objekt, aufgeladen mit den eigenen Wünschen, Fantasien und Vorstellungen, „wie man sein und wie man wahrgenommen werden möchte“ im sozialen Raum der Straße. Das Auto, und wohl auch das Rad, diene der Regulation des Selbstempfindens und des Selbstwertgefühls. Rücksichtsappelle bleiben in diesem Umfeld vermutlich ähnlich wirkungslos, wie im harten Kern der Autofahrergemeinde.
Schwache Persönlichkeiten
Aggressivitätstäter hält der Unfallforscher Siegfried Brockmann für „eher schwache Persönlichkeiten mit geringer Selbstkontrolle, die ihr Revier verteidigen wollen“. Ein Fahrertyp, dem man nur mit Härte beikommen
könne. Zwar gebe es für Aggressionen keinen handhabbaren Gradmesser wie eine Maßzahl. Aber da, wo sie wie häufig von eklatanten Gesetzesverstößen begleitet werden, ließe sich auch ein entsprechendes Strafmaß
festsetzen.
Eine gewisse Hoffnung, dass sich die Aggressivität im Straßenverkehr von selbst regulieren könnte, hegt der ACE und setzt dabei auf den demografischen Wandel: „Der Verkehr bekommt mehr und mehr Falten, er wird altersweise und gelassener, und er entdeckt für sich die Vorteile der Langsamkeit.“