Rund zwölf Prozent der Psychotherapeuten räumen sexuelle Kontakte zu ihren Patientinnen ein: "Als ob es plötzlich Liebe wäre"
Edith war am Ende. "Ich konnte keine Beziehung eingehen, hatte Angst, vor Leuten zu sprechen. Warum? Meine Mutter wurde jahrelang missbraucht und konnte meine Nähe nicht ertragen. So wurde aus mir ein traumatisiertes Kind." Dann kam der Tag, an dem etwas passieren musste.Edith (Name von der Red. geändert) wandte sich bedürftig und verzweifelt im Sommer 2004 an einen Therapeuten - zunächst mit Erfolg: "Keiner verstand mich so wie er, er gab mit Sicherheit und Rückhalt und ich übertrug meine Sehnsucht auf ihn." Schon nach wenigen Monaten Therapie ging es Edith deutlich besser. Sie begann sogar das Studium, das sie sich rund 15 Jahre zuvor - nach dem Abitur - nicht zugetraut hatte. "Und dann lag ich auf einmal mit ihm auf der Couch. Als ob es plötzlich Liebe wäre."Warum nicht, könnte man denken. Und als Laie vermuten, dass so etwas nun einmal vorkommen kann: Dass sich auch ein Therapeut in eine Patientin, ein Patient in seine Therapeutin verlieben kann. Oder?Kann schon, sagt die Psychotherapeutin und -analytikerin Monika Becker-Fischer. Aber dann komme es darauf an, wie man damit umgeht. "Es darf dann nicht zur Handlung kommmen, und die Gefühle müssen therapeutisch bearbeitet werden", erläutert Becker-Fischer. "Denn einer therapeutischen Situation unterliegt auch immer ein Machtverhältnis, weil sich die Patientin ja immer aus einer hilflosen Lage heraus an den Therapeuten wendet. Wenn dieser das Machtgefälle zu eigennützigen Zwecken ausnutzt, ist das Missbrauch", befindet die Autorin des Buchs "Sexuelle Übergriffe in Psychotherapie und Psychiatrie".Das Buch fußt auf den Ergebnissen einer Studie, die Becker-Fischer zusammen mit ihrem Mann Gottfried Fischer im Auftrag des Bundesfamilienministeriums Mitte der 90er Jahre vornahm. Sie sorgte schließlich 1998 für eine Strafgesetzänderung: Therapeuten, die sich an ihren Patientinnen vergreifen, droht nun eine Gefängnisstrafe von bis zu fünf Jahren."Aber leider gilt als sexuelle Handlung im juristischen Sinn nur die Spannbreite vom Berühren erogener Zonen bis zum sexuellen Akt an sich", kritisiert Becker-Fischer. "Missbrauch in der Therapie ist aber viel weiter zu fassen. Es reicht schon, wenn der Therapeut - zu 90 Prozent verursachen männliche Therapeuten die Übergriffe - eine private Beziehung eingeht, und so seine Interessen in den Vordergrund stellt. Das ist emotionaler Missbrauch."Welch fatale Folgen solch unprofessionelles Verhalten haben kann, hat Mathilde S. (Name geändert) erlebt, die sich in ihren Therapeuten verliebte und ihm das nach wochenlangem gegenseitigem Flirt schließlich gestand - was die Therapie sofort beendete. "Er sagte, dass aus uns natürlich nichts werden könne, wegen des Arzt/Patienten-Verhältnisses. Es sei möglich, dass wir uns in einigen Wochen mal auf einen Kaffee irgendwo treffen könnten. Er versprach, dass wir uns wiedersehen würden: ,Ich halte mein Wort!' Vier Wochen vergingen, und ich schrieb ihm mehrmals. Aber es kam keine Antwort. Ich war inzwischen wieder in meiner Depression, fühlte mich verlassen und ausgenutzt, war einfach nur verwirrt. Ich schrieb ihm von meiner Verzweiflung und auch von den Selbstmordgedanken, aber er reagierte nicht mehr."Obwohl der Therapeut offenbar selbst kaum aktiv wurde, hätte er Monika Becker-Fischer zufolge seine Patientin auf keinen Fall allein lassen dürfen. "Wenn er merkt, dass sich ein Interesse an der Patientin regt, muss er auf jeden Fall eine Supervision machen und seine Gefühle klären, bei Bedarf das Geschehene in einer eigenen Therapie aufarbeiten." Die Therapie abzubrechen, sei meist richtig. "Aber er muss seine Patientin an einen anderen Therapeuten vermitteln. Er darf sie nicht einfach fallen lassen, sonst ist sie doppelt verlassen: Ihre Hoffnung auf Heilung und auf eine private Beziehung werden enttäuscht."Wie bei Mathilde, die in der Folge fürchterlich litt: "Er wusste ja, wie schwer ich mich mit Vertrauen tue, wie oft ich in meinem Leben bereits im Stich gelassen wurde. Und gerade er reißt diese Wunde wieder auf. Für mich ging es von da an stetig bergab. Ich war wieder sehr depressiv und ich konnte meinen Alltag nicht mehr bewältigen. Ich habe dann meine Schule abgebrochen, bin wieder zurück zu meinen Eltern gezogen. Ich habe mich vollkommen von der Welt abgeschottet, und es hat eineinhalb Jahre gedauert, bis ich nicht mehr jede Nacht geweint habe."Drei von vier Missbrauchsopfern in der Therapie sind traumatisiert, hat Christiane Eichenberg, Psychologin an der Uni Köln und Autorin einer aktuellen Studie zum Thema (PPmP, Band 59, S.337-344, 2009) herausgefunden. Symptome seien: emotionaler Rückzug, Misstrauen, Depression, Schlaf- und Konzentrationsstörungen, Selbstmordgedanken, Angst. "Bei 60 Prozent der 77 im Internet Befragten verstärkten sich ihre Beschwerden, wegen derer sie in Therapie gegangen waren, bei 60 Prozent kamen neue Symptome hinzu." Eichenberg empfiehlt deshalb, schon frühzeitig auf Warnsignale zu reagieren.Eine Grenzüberschreitung sei es schon, wenn der Therapeut von seinem Privatleben berichte, "Termine in die Abendstunden lege, häufig anrufe, Stunden überzieht, die Patientin bittet, auf die Kinder aufzupassen, mit ihr ins Restaurant geht".Der Therapeut sei aus Sicht der Patientin eine Elternperson, an die sich das hilflose Kind in seiner Not wende: "Deshalb ist der Missbrauch so traumatisch wie für ein Kind", sagt Becker-Fischer, "sein Vertrauen wird zutiefst erschüttert".Anders als bei Mathilde war Ediths Beziehung zu ihrem Therapeuten ausgeprägt sexualisiert: "Wir haben uns monatelang regelmäßig getroffen und wurden immer intim." Angefangen habe alles ganz subtil. "Er hat mir suggeriert, ich würde meine Sexualität in der Ehe nicht ausleben und dass meine Ängste damit zusammenhingen." Den Sex lieferte er dann gleich selbst. Die Zudringlichkeiten des Therapeuten sorgten zunächst einmal dafür, dass Edith abstürzte und Psychopharmaka brauchte: "Es ging mir richtig schlecht: Ich stand vor dem Spiegel und sagte mir: Es kann doch nicht sein, dass ein Arzt so etwas tut." Und dann: "Du hast Dich prostituiert und wirst mit Tabletten bezahlt."Erst nach Monaten und einer Recherche im Internet wurde Edith so richtig klar, "dass ein Therapeut das nicht darf". Sie stellte ihn zur Rede und er rief die Polizei, weil sie sich weigerte zu gehen. "Er sagte mir, ich hätte einen Schizophrenie-Schub gehabt, um mir zu suggerieren, ich sei verrückt, und mir glaube ja sowieso keiner. Das Schlimme ist: Ich fühlte mich ja auch total verrückt." Am nächsten Tag ging sie in die Psychiatrie statt zur Polizei.Ein Einzelfall? Keineswegs. Befragungen zufolge gibt jeder zehnte männliche Therapeut zu, schon einmal mit einer Patientin intim gewesen zu sein, betont Eichenberg.Triebfedern der meisten regelmäßig missbrauchenden Therapeuten sind laut Becker-Fischer Wunscherfüllung oder Rache. Vieles spreche dafür, "dass bei bestimmten Therapeuten in der Begegnung mit sexuell ausgebeuteten Patienten eigene Traumata aus der Kindheit reaktiviert werden". Viele seien Wiederholungstäter, älter, sehr erfahren, "sie sitzen oft in Führungspositionen, sind Lehrtherapeuten oder gar Mitglieder von Ethikkommissionen".Möglich ist das nur wegen der begleitend auftretenden Persönlichkeitsspaltung: "Der erfahrene, oft renommierte Therapeut realisiert nicht, was seine andere Seite Stunden später mit der Patientin auf der Couch macht. Es ist ihm nicht unbewusst, aber er kann das nicht zusammenführen."Es sei alarmierend, dass Traumatisierungen der angehenden Therapeuten in deren Lehrtherapien offenbar nicht oft genug auffallen, sagt Becker-Fischer: Viele hätten Angst, dass sie nicht Therapeut werden können, wenn sie zugeben, dass sie Schlimmes erlebt haben. "Die Ausbildungsinstitute müssen hier aufmerksamer werden." Doch Becker-Fischer kennt viele schwarze Schafe unter den Instituten: "Man weiß, dass Grenzüberschreitungen dort an der Tagesordnung sind".Auch Eichenberg berichtet von einem Fall, wo der Lehranalytiker "mit einer Lehranalysandin etwas angefangen hat: Als sie sich verwirrt an einen Kollegen wandte, empfahl der ihr, das Institut zu wechseln." Ärgerlich nennt sie das: "So wird verschleiert."Becker-Fischer fordert deshalb dringend, "eine bessere Aufklärung des gesamten Berufsstandes der Psychotherapeuten und Psychoanalytiker, eine Sensibilisierung für grenzwertiges Verhalten und klare Regeln, was zu tun ist, sobald man vom Missbrauch im Kollegenkreis erfährt". Außerdem appelliert sie an ihre Kollegen, Patientinnen, die von sexuellem Missbrauch in der Therapie berichten, künftig mehr Glauben zu schenken.Wie Edith, der von ihrer Folgetherapeutin so lange zugesetzt wurde, bis sie ihren Therapeuten vor Gericht entlastete und prompt wieder in ein Verhältnis mit dem Mann rutschte. Sie brauchte vier Monate in einer Klinik bis sie wieder Lebensfreude empfinden konnte. "Man muss den Täter zwingen, Verantwortung zu übernehmen, seine eigenen Traumata aufzuarbeiten. Ich habe zu lange gedacht, ich könnte ihn mit meiner kindlichen Liebe heilen, aber das ist Schwachsinn."------------------------------TätertypenBei Befragungen von Psychotherapeuten, ob sie in ihrem Leben je sexuelle Kontakte zu Patienten hatten, bejahen das rund zwölf Prozent der männlichen Therapeuten und etwa drei Prozent der weiblichen Therapeuten, so die Psychotherapeutin Monika Becker-Fischer. "Wir gehen davon aus, dass mindestens zehn bis 20 Prozent der Patientinnen mindestens einmal Opfer von sexuellem Missbrauch sind", so Becker-Fischer. 90 Prozent der missbrauchenden Therapeuten seien Männer. In einer Studie der Psychologin Christiane Eichenberg, die auf der Forschung Becker-Fischers fußt, gaben fast 30 Prozent der Befragten an, die Täter seien Frauen gewesen.Fast immer seien die Täter selbst traumatisiert. Hier gibt es zwei Tätertypen:Rache steht bei einem Teil der Täter im Vordergrund: "Er wehrt sein Kindheitstrauma ab, indem er sich mit dem damaligen Täter identifiziert und schützt sich so vor der Erinnerung an die eigene Hilflosigkeit und Ohnmacht", so Becker-Fischer. Ihn beherrsche die Wunschphantasie des Allmächtigen, der nie in eine verletzende Lage geraten kann. Deshalb meidet er intensivere Beziehungen. Eichenberg zufolge neigt er zu Gewalt.Der Wunscherfüllungstypus teilt mit der Patientin die Phantasie, dass nur er sie retten kann. Im Gegenzug rutscht er allmählich selbst in die Rolle des Hilfsbedürftigen und macht die Patientin zu seinem Rettungsengel - sexuelle Hilfeleistung inbegriffen.Mit Haft bis zu fünf Jahren müssen Therapeuten rechnen, die sexuelle Kontakte mit Patienten haben.Buchtipp: Monika Becker-Fischer, Gottfried Fischer: Sexuelle Übergriffe in Psychotherapie und Psychiatrie, Asanger Verlag 2008, 222 SeitenEine Infobroschüre gibt es im Internet: www.bmfsfj.de/Kategorien/Publikationen/Publikationen,did=25588.html------------------------------"Es ist schon eine Grenzüberschreitung, wenn der Therapeut von seinem Privatleben berichtet." Monika Becker-Fischer, Psychotherapeutin