"Schreberzone" an der Neuköllner Oper: Fibel der Fruchtzwerge

Das lässt sich der Silbenschmecker über den Gaumen gleiten wie der Weinfreund den Saft der Traminertraube: "Schlangengurken in Mulchfolie pflanzen und an Schnüren aufrichten!" Genießt man da nicht beim leisen Mitsprechen die oralmotorische Verwandlung von "Schl" über "lch" zu "Schn"? Dieses raffinierte Klangkalkül aus Lecken und Schnaufen? Diese zum Spalier gebundene feuchte Sinnlichkeit der Worte in der verdichteten Prosa eines Gartenmagazins? Wundern Sie sich nicht, liebe Leserinnen und Leser, über diese Fragen. Sie sind ebenso abartig wie nebensächlich, aber der einzig gangbare Weg, über die Produktion "Schreberzone" an der Neuköllner Oper zu schreiben. Denn darüber zu schreiben, stellt den Bruch einer Verabredung dar, die Volker Schindel, Rainer Killius und Tobias Dutschke nach 80 Minuten in den Kellerräumen des Grundstücks Karl-Marx-Straße 133 mit ihrem Publikum getroffen haben: "Kommen Sie gut nach Hause und erzählen Sie bitte nichts von Ihren Erlebnissen".Und man würde wirklich den halben Spaß nehmen, wenn man Einzelheiten schilderte: so viel Pointen liegen in der Unvorhersehbarkeit der Text- und Musikfolgen, in der Verunsicherung und dem langsamen Vertrauen des Publikums zu den drei Darstellern versteckt. Nur dies also: Es geht um Daniel Gottlob Moritz Schreber, 1808 bis 1861, einen Orthopäden und Pädagogen, der die metaphorische Verwandtschaft von Erziehung und Fruchtziehung so ernst nahm, dass er Schlaufen und Zwingen ersann zur Korrektur von O- oder X-Beinen, zur Vermeidung von Fehlbissen und der eigenhändigen Stillung des Geschlechtstriebes bei Heranwachsenden. "Ringe nach voller Herrschaft über dich selbst! Bleibe unermüdlich im Streben nach dieser wahren Freiheit, nach Selbstveredelung!" - dieser Schreber'sche Imperativ begegnet einem in dem Stück zum ersten Mal bei selbstertüchtigenden Klimmzügen der singenden Herren und dann immer öfter.Kinder- und FamilienbeeteSchreber wollte Spielplätze für Kinder, und weil Kinder auch arbeiten sollten, kamen Kinderbeete dazu. Weil die Kinder nicht arbeiten wollten, wurden daraus Familienbeete. Weil die Familien das Erarbeitete einander wegmopsten, entstanden umzäunte Familienbeete. So die kurz gefasste Geschichte des Schrebergartens. Laut biblischem Schöpfungsbericht stammt der Mensch ja aus einem Garten. Weil er vom falschen Baum genascht hat, wurde er vertrieben und setzt nun durch kulturelle Anstrengung alles daran, wieder in den Garten zurückzukehren. Was dabei herauskommt, ist meistens Murx. Diesem Murx sinnt "Schreberzone" so kunstvoll und formbewusst nach, wie man es von den Produktionen der Neuköllner Oper selten sagen kann. Die Exzellenz dieses Musiktheaters besteht darin, das kulturelle Leiden an Zucht und Form intellektuell und ästhetisch in ein Vergnügen zu transformieren. Es ist schon Ulk auf höchstem Niveau, wenn zwischen lauter Weckgläsern, beim Strauchbeschnitt und dem Gießen frischer Setzlinge das Lied "Das schöne Beet" aus Arnold Schönbergs "Buch der hängenden Gärten" erklingt - mit originaler Gesangslinie, aber zu schaumig-süßen Barbershop-Jazzakkorden des Klaviers, weil die "Erziehung" des Publikums zum Genuss atonaler Musik auch nach hundert Jahren offenbar nicht "gefruchtet" hat.Es ist sehr zu begrüßen, dass die Neuköllner Oper diese Produktion, die vor einem Jahr beim Festival OpenOp Premiere hatte, nun wieder aufnimmt. Mögen Trendforscher darüber witzeln, dass heute Doof das neue Schlau sei, so stellt doch dieses Stück klar: Doof bleibt doof, schlau bleibt schlau, und japanische Zierzwergkirsche bleibt japanische Zierzwergkirsche.-----------------------Schreberzone 26.-28. Mai sowie 2., 4. 10./11., 17./18.,23.-26. Juni, 21 Uhr, Neuköllner Oper, Karl-Marx-Str. 131-133