Schriftstellerin Carolin Philipps bevorzugt die unbequeme Art der Recherche: Erlebt und erfühlt

Wenn die Schriftstellerin Carolin Philipps bei einer ihrer ungefähr 50 Lesungen pro Jahr Schülern gegenüber sitzt, dann fragt sie zunächst: "Wer von euch trägt Turnschuhe?" Und dann erzählt sie, wie sie für ihr Buch "Made in Vietnam" junge Mädchen vor Fabriken, in denen diese Schuhe genäht werden, angesprochen hat. "Die haben mir erzählt, dass sie pro Schicht zehn bis zwölf Stunden arbeiten müssen und in dieser Zeit nur einmal auf Toilette dürfen." Wenn sie damit ihre Zuhörer in Deutschland nachdenklich gemacht und für das Thema Interesse geweckt hat, wird es meist eine für alle Beteiligten gute Stunde.Carolin Philipps, die gerade im Ballsaal von Schloss Schönhausen in Pankow aus ihrem jüngsten Buch "Luise - Die Königin und ihre Geschwister" las, kann sich nicht einfach an den Schreibtisch setzen und aus im Internet recherchierten Fakten Bücher zusammenschreiben. "Ich erlebe meine Geschichten, ich muss sie erfühlen können." Für "Der Baum der Tränen" ist sie an die Grenze zwischen Mexiko und den USA gefahren. "Ich habe dort Jugendliche angesprochen, die schon mal beim Versuch des Grenzübertritts in Richtung USA gescheitert waren. Dafür habe ich extra Spanisch gelernt." Sie gewann ihr Vertrauen und war beim nächsten Anlauf dabei: "Seitdem weiß ich, was Angst ist. Und kann sie auch beschreiben." Für andere Buchprojekte lebte die 56-jährige Schriftstellerin wochenlang mit Straßenkindern in Rumänien oder in einer Höhle auf den Osterinseln.Auf die Idee, Jugendbücher zu schreiben, kam Carolin Philipps während der Jahre, in denen sie im Lehrerberuf pausierte, um ihre Söhne aufzuziehen: "Damals habe ich für meine Jungs Kindergeschichten geschrieben. Später merkte ich, dass sich manche Themen im Geschichtsunterricht besser vermitteln lassen, wenn ich sie den Schülern in Form einer Geschichte serviere." Daraus entstand ihr erstes Buch "Großvater und das Vierte Reich", das verfilmt und in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Für "Milchkaffee und Streuselkuchen" über zwei Schüler, einer davon ist der dunkelhäutige Sohn afrikanischer Einwanderer, bekam sie den Mentioning Award der Unesco für Frieden und Toleranz. "Das Thema Toleranz ist mir wichtig. Wie gehen wir mit Menschen um, die anders sind? Oft werden auch Themen von Lehrern an mich herangetragen. So habe ich über Mutproben oder Erpressung geschrieben. Und arbeite gerade am Thema Cybermobbing."Neben der Arbeit an Büchern für Jugendliche gönnt sich die studierte Historikerin auch immer wieder das Vergnügen ausgiebiger Recherchen in Archiven, bei denen Erwachsenes wie ihr jüngst zum Luise-Jahr erschienener Band "Luise - Die Königin und ihre Geschwister" (Piper, 12,95 Euro) entsteht. Ihr Interesse für preußische Geschichte hat die Hamburgerin jetzt sogar zur Teilzeit-Berlinerin gemacht: "Da ich zunehmend in hiesigen Archiven arbeite, habe ich mir ein Apartment in Mitte gemietet." Für das Luise-Buch arbeitete sie 8 000 Briefe der Königin und ihrer Geschwister durch. Und hatte dabei Hilfe vom Papa: "Mein Vater hat sich in die alte Schrift eingelesen. Er überträgt die oft sehr geschmierten Briefe in lesbares Deutsch."Fast 20 Jahre lang hat Carolin Philipps ihre Bücher parallel zur Arbeit als Lehrerin für Geschichte und Englisch geschrieben. "Das wurde irgendwann zu viel. Ich habe mich vor zwei Jahren beurlauben lassen."Um ihre Leser nicht auf den ersten Zeilen zu verlieren, hat Carolin Philipps, deren Bücher inzwischen in 16 Sprachen übersetzt wurden, einen Drehbuchkurs besucht: "Wenn ich schreibe, weiß ich, dass ich maximal eine halbe Seite habe, um den Leser zu packen." Ihrer festen Überzeugung nach kann man fast jeden Jugendlichen mit demselben Mittel zum Lesen animieren: "Das funktioniert meist über Spannung." Die Art, mit der viele Lehrer ihren Schülern das Interesse an Büchern austreiben, ärgert sie: "Ich sage den Lehrern immer: Unterbrecht den Lesevorgang nicht. Ein Buch hat einen Spannungsbogen. Also sollte man nicht nach jedem Kapitel Fragen dazu stellen. Wenn die Lust am Lesen erst mal weg ist, ist sie nämlich weg."------------------------------Foto: Carolin Philipps' Bücher sind inzwischen in 16 Sprachen übersetzt worden.