Schwarz-Schilling zu Südosteuropa: „Wir müssen in Bosnien Initiative ergreifen“

Herr Schwarz-Schilling, in Bosnien hat es jetzt schwere Unruhen gegeben. Wie bewerten Sie das?

Leider zeigt sich dort, dass sich die Geduld der Bevölkerung aufgrund der seit dem Dayton-Vertrag völlig ungelösten Probleme dem Ende zuneigt. Auch in Zukunft ist mit solchen Unruhen zu rechnen – vielleicht auch mit schlimmeren.

Bedeutet schlimmer: Rückkehr bürgerkriegsähnlicher Zustände wie in den 90er Jahren?

Nein, das nicht. Die Demonstranten haben sich ja auch noch recht zivil benommen, da keinerlei Schusswaffen benutzt wurden. Teilweise haben die jungen Leute hinterher sogar wieder aufgeräumt. Aber das ist natürlich nicht das Ende der Sache. Man muss endlich begreifen, dass die internationale Gemeinschaft mitverantwortlich dafür ist, in welchem Zustand sich Bosnien-Herzegowina heute befindet.

Wo sehen Sie das Hauptproblem?

Das Hauptproblem sehe ich darin, dass der Aufbau der Institutionen zum Erliegen gekommen ist und die Dysfunktionalität des Staates mit jedem Tag schlimmer wird. Die Verantwortlichkeit Europas ist praktisch nirgendwo sichtbar. Gerade die Reden des deutschen Bundespräsidenten, des Außenministers und der Verteidigungsministerin für mehr Verantwortung scheinen nur eine rein globale Perspektive eingenommen zu haben, während wir die Baustellen in Europa offensichtlich bis heute übersehen. Auf dem West-Balkan könnte das gefährlich werden.

Was meinen Sie damit?

Es könnte sein, dass die Bosnier die Geduld verlieren und die jungen Leute die dortigen Regierungsstellen, die mehr diktatorische als demokratische Instrumente benutzen, zur Verantwortung ziehen. Inwieweit das zu weiteren Gewalttaten führt, ist heute völlig unabsehbar. Die Instrumente des Dayton-Vertrages sind jahrelang nicht genutzt worden. Der Hohe Repräsentant hat seine Funktionsfähigkeit weitgehend verloren. Und jetzt regt sich die internationale Gemeinschaft auf.

Was sollte der Westen tun?

Er sollte seine Verantwortung wahrnehmen. Die Berichte internationaler Organisationen müssen ernst genommen werden. Außerdem müsste sich zwischen Europa und Amerika ein Konsens ergeben, welche Maßnahmen in welcher Priorität ergriffen werden sollten. Dabei müssen auch Russland und die Türkei angemessen einbezogen werden. Wenn das nicht bald angegangen wird, wird der West-Balkan letztlich ein schwarzes Loch werden, weil auch der Konflikt zwischen dem Kosovo und Serbien noch keinesfalls einer echten Lösung zugeführt worden ist – genau so wenig wie die Funktionsunfähigkeit des Staates Bosnien-Herzegowinas als große Gefahr überhaupt erkannt wurde. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten werden unterdessen immer schlimmer, obwohl sie bereits heute ein unvorstellbares Niveau erreicht haben.

Auf welche konkreten Veränderungen in Bosnien sollte der Westen denn drängen?

Der Staat muss funktions- und regierungsfähig werden. Man muss die Institutionen ernst nehmen, statt sich in Hinterzimmern mit teilweise korrupten und menschenrechtsfeindlichen Parteiführern abzustimmen. Man muss mit dem Parlament reden und dafür sorgen, dass die Gewaltenteilung richtig in Gang kommt. Stattdessen hat Deutschland den Fokus auf den West-Balkan restlos verloren.

Es sieht zumindest so aus. Auch Afghanistan ist, gemessen an Afrika, schon bald nicht mehr richtig aktuell.

Aber immerhin fährt da noch der Außenminister hin. Man sieht Berichte in der Tagesschau. Da habe ich auch gar nichts dagegen. Aber selbst wenn es in Bosnien Unruhen dieser Art gibt, schläft im Grunde genommen noch alles weiter. Das muss sich ändern. So wie die Franzosen in Mali die Initiative ergriffen haben, müssen wir das in Südosteuropa tun. Denn das sind unsere Nachbarn.

Das Gespräch führte Markus Decker.