Seit 50 Jahren der Stolz einer Stadt: Das "Staatlich Akademische Theater für Oper und Ballett" in Nowosibirsk: Freiheit hat viel mit gutem Geschmack zu tun
Hier, in Nowosibirsk, ist das Opernhaus ein kulturelles Denkmal. Der Chef des Opernchores, Wjatscheslaw Podjelski, 1946 in der westsibirischen Stadt geboren, erzählt: "Mit dem Kriegsende begann bei uns die Oper zu spielen. Mit ihr zog Schönheit in unsere Stadt. Schönheit und Kunst gehören zum Leben. Sie kann sehr viel zur Völkerverständigung beitragen und Menschen nicht nur glücklich machen, sondern helfen, in schwierigsten Situationen zu überleben. Sie muß erhalten bleiben."Das Ende des Zweiten Weltkrieges ist für Nowosibirsk untrennbar mit der Eröffnung des "Staatlich Akademischen Theaters für Oper und Ballett" im Mai 1945 verbunden. Und trotz aller wirtschaftlicher Schwierigkeiten: Kunst und Kultur sind auch heute in Sibirien lebendig. Hart im Nehmen Nowosibirsk, das frühere Nowo-Nikolajewsk, am oberen Ob in Westsibirien gelegen, mit seinen anderthalb Millionen Einwohnern versteht es sich heute als Drehscheibe zwischen Europa und Asien. Schließlich führen hier die Transibirische und die Turkestan-Sibirische Bahn vorbei, fliegen vom Airport Tolmatschewo Riesenvögel nonstop bis nach Frankfurt am Main oder Tokio.Die Stadt hinter dem Ural, vier Auto-Tagesreisen von Moskau entfernt, hat sich in den letzten 50 Jahren zum größten industriellen, wissenschaftlichen und kulturellen Zentrum Westsibiriens entwickelt. Sicher nicht zufällig. Wer hinter dem Ural geboren wird und lebt, ist hart im Nehmen. Hinzu kommt: Nach dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion wurden Künstler, Wissenschaftler, Mediziner, Spezialisten, auch Deutsche aus Moskau, Leningrad, Kiew und vielen anderen Städten vor dem Ural dorthin evakuiert. Die Lebensumstände in der damals kleinen Stadt waren kompliziert. Aber Einheimische und Neuankömmlinge empfanden sich als Schicksalsgemeinschaft. Sie dachten nicht daran, auf Kultur zu verzichten. Schon damals galt hier die Devise: Man kann sich nur auf die eigenen Kräfte verlassen.Eine Ballettschule entstand, deren Absolventen von sich Reden machen, ebenso ein Konservatorium, aus dem exzellente Vokalisten und Instrumentalisten hervorgingen, Ausbildungsstätten, an denen bis heute begabte russische Kinder kostenlos ausgebildet werden. Eisige Kälte Doch der größte Stolz der Nowosibirsker ist das Staatlich Akademische Theater für Oper und Ballett im Herzen der Stadt. In den dreißiger Jahren war mit seinem Bau begonnen worden. Der Krieg unterbrach die Arbeiten. 1942 entschied Moskau, daß das Theater fertiggebaut wird. Die Erinnerung daran ist bei den Veteranen noch lebendig. In eisiger Kälte und glühender Hitze bauten Frauen und Männer mit bloßen Händen, ohne große Technik das Haus mit seinem 2 000 Plätze umfassenden amphitheaterähnlichem Zuschauerraum, der großen Bühne, zwei Konzertsälen, Garderoben, Werkstätten und Verwaltungsräumen. Zur Eröffnungsvorstellung am 12. Mai 1945 mit Glinkas "Iwan Sussanin" schien ganz Sibirien Einlaß zu begehren.Das Opernhaus hat in seiner 50jährigen Geschichte dank erschwinglicher Eintrittspreise und eines vielseitigen Opern-und Ballett-Spielplans von "Boris Godunow" bis "Zauberflöte", von "Schwanensee" bis zur "Carmen Suite" regen Zuspruch - auch heute noch.Natürlich wirken sich die wirtschaftlichen Probleme in Nowosibirsk auf die Kultur aus. An allen Ecken und Enden muß gespart werden. Darüber klagen die Theaterleute nicht. Sie haben sich darauf eingestellt. Das beginnt bei der Ausstattung: Die Inszenierungen leben nicht von monströsem Aufwand. Gemalte Prospekte, geschickt angebrachte Hänger vermitteln Poesie und Emotion. Regisseur und Dirigent verzichten hier auf vordergründige Aktualisierungen der Werke; sie vertrauen auf ihre Aussagekraft. Beispiele dafür sind die Inszenierungen von "Boris Godunow", "Eugen Onegin" oder "Tosca" durch Irkin Gabitow. Für den Regisseur ist es wichtig zu zeigen, was der Komponist gefühlt hat, als er die Oper komponierte. Das ist es wohl auch, was die Menschen in Nowosibirsk erwarten. Billige Erotik Zu Beginn der Perestroika hatte sich auf den Bühnen der Stadt viel Oberflächliches breitgemacht - billige Erotik, primitive Unterhaltung. Bald schon aber hatte das Publikum die Nase voll von dieser "neuen Kunst" und mied das Theater. Als einen Ausdruck falschverstandener, neugewonnener Freiheit erklärt der stellvertretende Bürgermeister für Kultur, Valeri Brodski, der vor Jahren noch Opernchef in Nowosibirsk war, diese Phase. Sie war schnell vorbei; denn, sagt er, "Freiheit ist etwas Gutes. Aber sie verpflichtet und hat viel mit gutem Geschmack zu tun. Das haben die Theaterleute hier schnell begriffen. Seitdem dominieren wieder Inszenierungen, die sich an wahren Werten orientieren. Die Vorstellungen sind gut besucht." Mitunter traurig Dennoch sind die Künstler aus Nowosibirsk - vor allem Sänger, Chor und Orchester - mitunter traurig. Außerhalb von Nowosibirsk sind sie kaum bekannt. Schuld daran ist die Finanzlage: Es mangelt an Devisen für Reisen zum Vorsingen oder zu Wettbewerben im Ausland. Natürlich träumen alle davon, einmal auf einer westlichen Bühne zu gastieren. Aber niemals würden sie Nowosibirsk für immer den Rücken kehren. Sie sind stolz auf ihre Ausbildung am Nowosibirsker Konservatorium, von der das Ausland wenig weiß. Als der Opernchor in Italien mit Verdis "Requiem" gastierte, staunten Kritiker über die Interpretation. Sie wollten nicht glauben, daß in Sibirien so exzellent Italienisch gelehrt wird.Chefdirigent Aleksej Ljudmilin hat sich vorgenommen, mit der Kunst Brücken zu schlagen. Den Anfang machte vor Jahren die Zusammenarbeit mit dem Badischen Staatstheater Karlsruhe. Es gab Gastspiele des Balletts und der Opern sowie Co-Produktionen. Generalintendant Günter Könemann inszenierte in Nowosibirsk die "Zauberflöte". Jetzt sind Gastspiele und Co-Produktionen mit anderen Bühnen im Gespräch - verhandelt wird mit Impresarios aus Holland, Portugal, Spanien und Ägypten. Gastspiele im Ausland helfen, daß die Kultur in Nowosibirsk, auch das Opernhaus, überleben. Sowohl Opernchef Valeri Jegudin als auch Aleksej Ljudmilin sind davon überzeugt, daß das Staatliche Opernhaus und die anderen vier Nowosibirsker Theater weiterexistieren werden - auch ohne Hilfe aus Moskau.Von dort werden zwar immer wieder Zuschüsse zugesagt, aber häufig bleiben sie aus. Deshalb helfen sich die Nowosibirsker selbst. Die Stadtverwaltung macht Geld locker, hilft mit Wohnungen. Sponsoren, darunter auch deutsche Firmen, unterstützen die Kultur finanziell. Und die Theaterleute wollen mit packenden Vorstellungen ihren Teil zum Überleben der Kunst beitragen. +++