Seit Langem ist der Basketballer Dirk Nowitzki in den USA ein Star. Jetzt steht er vor seinem größten Triumph: Am Sonntag kann er mit Dallas Meister werden: Der Gigant

NEW YORK. Natürlich ist Leistungssport niemals reine Kopfsache, wie die Gurus des mentalen Trainings es gerne predigen. Und doch gibt es Momente im Sport, in denen das Können der Kontrahenten annähernd gleich ist und die Psyche über Sieg oder Niederlage entscheiden muss.Ein solcher Augenblick ereignet sich in der Endphase des vierten Spiels zwischen Oklahoma City Thunder und den Dallas Mavericks in der Halbfinal-Serie um die US- Meisterschaft im Basketball. Fünf Minuten vor Abpfiff sieht es gar nicht danach aus, als würde Dallas dieser wichtige Auswärtssieg gelingen. Oklahoma ist mit 15 Punkten Vorsprung davongezogen, es wäre leicht für Dallas, sich in die Niederlage zu fügen. Doch Dirk Nowitzki, der 2,13 Meter große Kapitän der Mavericks, lässt das nicht zu. Er meldet eine Auszeit an, steckt mit seinen Jungs die Köpfe zusammen und bläut ihnen ein: "Das hier ist unser Spiel, das ist unser Moment. Wir müssen uns dieses Ding holen."Es ist kein leeres Motivations-Blabla, das der gebürtige Würzburger da von sich gibt. Die Mavericks holen in den folgenden Minuten 17 Punkte, zwölf davon erzielt Nowitzki selbst. Nur Sekunden vor dem Abpfiff versenkt er zwei Freiwürfe hintereinander im Netz, um das Unentschieden und die Verlängerung zu erzwingen, in der Dallas schließlich siegt.Das "German Wunderkind"So wie Dirk Nowitzki agiert im Mannschaftssport ein echter Leader. Der Deutsche, der seine dreizehnte Saison in der NBA, der härtesten und stärksten Basketball-Liga der Welt, spielt, füllt in diesem Jahr diese Rolle voll und ganz aus. Er kann im Alleingang ein Spiel entscheiden. "Er will den Ball, er will die Verantwortung dafür, das Spiel zu gewinnen oder zu verlieren", sagt sein Trainer in Dallas, Rick Carlisle.Dirk Nowitzki ist mit 32 Jahren zur Führungspersönlichkeit gereift, und vor allem deshalb traut man dem einstigen "German Wunderkind" zu, mit den Mavericks endlich den lange ersehnten Titel zu holen. Nur noch einen Sieg ist er jetzt von der Erfüllung dieses Traums entfernt, in der Best-of Seven-Finalserie gegen Miami steht es 3:2. Schon am Sonntag könnte Nowitzki den Pokal in der Hand halten.Für ihn wäre dieser Titel mehr als nur der Gewinn einer Trophäe. Als einer der Besten seines Sports gilt Nowitzki schon lange, den Status eines Top-Spielers des US-Nationalsports hatte vor ihm noch kein Ausländer. So ist Nowitzki schon jetzt einer der raren deutschen Weltstars des Sports, auf einer Stufe mit Boris Becker, Steffi Graf und Michael Schumacher. Ohne einen NBA-Titel aber fehlt einer großen Karriere im Basketball das letzte Gütesiegel. Und er will es sich holen, dieses Siegel, er will es unbedingt.Dirk Nowitzki jagt diesem Traum nach, seit er 21 war und im zweiten Jahr bei Dallas spielte. Damals übernahm der Internet-Milliardär Mark Cuban die Dallas Mavericks und begann, um Nowitzki eine Spitzentruppe aufzubauen. Doch zum ganz großen Wurf hat es bis heute nicht gereicht, und viele glaubten, dass dies an Nowitzkis mangelhaften Führungsqualitäten gelegen hat.Am Talent des "German Wunderkind" hat nie jemand gezweifelt. Von dem Augenblick an, als der Sohn eines Würzburger Malermeisters einen Ball in die Hand nahm, war jedem, der etwas von dem Sport versteht, klar, dass dieser Junge etwas Besonderes ist. "Er hat so viele Dinge, die sich andere Spieler hart erarbeiten mussten, einfach richtig gemacht", sagt der ehemaliger Nationalspieler Holger Gschwendner, der den 15-Jährigen entdeckte und bis heute Nowitzkis Mentor ist.Bald wurde man auch außerhalb Deutschlands auf diesen außergewöhnlichen Sportler aufmerksam. Mit 18 Jahren wurde Nowitzki, der damals in der zweiten Bundesliga für DJK Würzburg auflief, zu einem Talenteturnier in die USA eingeladen und bekam die Gelegenheit, gegen NBA-Legenden wie Charles Barkley und Scottie Pippen zu spielen. Charles Barkley, einer der ganz Großen seiner Zunft, sagte danach: "Der Junge ist ein Genie. Wenn er in der NBA spielen möchte, dann soll er mich anrufen."Ein Jahr später bekam Dirk Nowitzki einen Vertrag bei Dallas und etablierte sich rasch als einer der Besten der Liga. Bis zum Jahr 2004 war er das, was man in den USA einen Franchise-Player bezeichnet - der eine Spieler, der unersetzlich ist, und um den sich bei einem Profi-Team deshalb alles dreht.Mit Nowitzki, der mit preußischer Disziplin unermüdlich an seinen Schwächen feilte und Jahr für Jahr stärker wurde, florierten die Mavericks, die einst reines Kanonenfutter für die Top Teams aus Chicago, Los Angeles, San Antonio und Detroit waren. Sie wurden Stammgast in den Play-offs, jenem Meisterschafts-Turnier nach der regulären Saison, bei dem im K.o.-Verfahren unter den besten Mannschaften der Champion ermittelt wird.Im Jahr 2006 stießen Nowitzkis Mavericks jedoch an ihre Grenzen. Sie waren in der normalen Liga-Spielzeit klar die beste Mannschaft gewesen. Nowitzki hatte die beste Saison seiner Laufbahn gehabt. In den Playoffs marschierten sie souverän bis ins Finale und gewannen dort gegen Miami auch die beiden ersten Spiele. Alles sah danach aus, dass die Mavericks die erste Meisterschaft ihrer Clubgeschichte gewinnen. Doch dann trafen sie auf Widerstand. Der Franchise-Player von Miami Heat, Dwyane Wade, wuchs über sich hinaus und legte eine überirdische Partie nach der anderen hin. Und Nowitzki erstarrte mit seinen Mavericks wie ein Kaninchen im Angesicht einer Klapperschlange.Wenn die Mavericks dieses Finale gewonnen hätten, wäre Nowitzki ein Platz im Pantheon des Basketballs sicher gewesen. Er wäre nicht mehr nur der ewige "beste europäische Spieler" gewesen - im US-Basketball noch immer ein Trostpreis. Er wäre ohne Einschränkungen in einem Atemzug mit Namen wie Magic Johnson, Larry Bird und vielleicht sogar Michael Jordan genannt worden. Doch stattdessen wurde er der Gigant, der im entscheidenden Moment in sich zusammensinkt.Die Erfahrung war traumatisch für Nowitzki. Man merkte in den Folgejahren stets aufs Neue, dass das große Versagen ihm und den Mavericks in den Knochen steckte. Immer wieder spielten die Mavericks eine starke reguläre Saison. Und wenn mit dem Frühling die Playoff-Zeit kam, tauchten die alten Dämonen wieder auf. Noch im Jahr 2010 sagte Nowitzkis in einem Interview, dass er ständig an 2006 denke.Auch privat lief es nicht gut für ihn in diesen Jahren. 2009 wurde mitten im Play-off-Stress in seiner Wohnung die 38 Jahre alte Cristal Taylor verhaftet, eine Frau, die er übers Internet kennengelernt und der er bereits die Ehe versprochen hatte. Taylor hatte sich das Vertrauen von Nowitzki erschlichen, in der Hoffnung, an seine Millionen zu kommen. Es war ein Schock für den Basketballer, eine "emotionale Achterbahnfahrt", wie er später sagte. Unheimlich naiv sei er gewesen. Dirk Nowitzki bezahlte den Preis dafür, sein Leben in einer Sport-Blase gelebt zu haben. Und als es darum ging, eine enge Beziehung außerhalb des Platzes einzugehen, stellte sich der Multimillionär völlig unbeholfen an.Bis zum Taylor-Skandal hatte man wenig aus Nowitzkis Privatleben erfahren - wohl auch, weil es wenig zu erzählen gab und gibt. Trotz seines vielen Geldes lebt er relativ bescheiden. Er kauft keine Häuser in der Karibik, er fährt keine teuren Sportwagen. Ein einziges Mal wurden private Fotos von ihm veröffentlicht, sie zeigten ihn mit seinem besten Freund Steve Nash, sie hatten ein paar Bier zu viel getrunken und spielten auf der Gitarre ein paar Lieder. Die beiden wirkten wie pubertierende Jungs.Nowitzkis Leben hat sich stets nur um Basketball gedreht. Im Sommer, wenn seine Teamkollegen am Strand lagen, spielte er entweder für die deutsche Nationalmannschaft. Oder er fuhr nach Hause nach Würzburg, um mit Holger Geschwindner an seinem Spiel zu feilen und Zeit bei seiner Mutter zu verbringen. In seiner Freizeit spielt er Saxofon und neuerdings auch Schlagzeug. Und er liest Romane. Die Glamour-Welt, in der sich viele seiner Kollegen nach der Saison bewegen, interessiert ihn nicht.Die amerikanische Öffentlichkeit wusste nach dem Desaster von 2006 immer weniger, was sie mit Nowitzki anfangen sollte. Die Debatten, ob er denn nun ein ganz Großer sei oder nicht, wollten nicht abreißen. Dabei ging es nie um sein unbestrittenes Talent. Sondern darum, dass er nicht tough genug sei, dass ihm die entscheidende Härte fehle. Ein Vorwurf, den Nowitzki gar nicht erst zu zerstreuen versucht. "Das ist halt mein Charakter.", sagt er. "Ich muss nicht jedes Mal mit Gewalt durch die Verteidigung brechen, wenn ich auch schießen kann."Nowitzki ist anders als die übrigen Stars der NBA, und er weiß um dieses Anderssein. Seit der Ära von Michael Jordan in den Neunzigerjahren ist man in den USA an einen bestimmten Typus des Franchise-Players gewöhnt. Es sind Leute wie LeBron James, deren Ego genauso grenzenlos ist wie ihr Können, Spieler, die immer lieber selbst werfen als den Ball abzugeben.Das ist Nowitzkis Sache nicht, wohl auch aus kulturellen Gründen. Er hat in Deutschland Basketball als echten Mannschaftssport gelernt, hat auf allen möglichen Positionen gespielt und ist deshalb so variabel einsetzbar wie sonst kaum ein anderer Basketballer. Nowitzki spielt so, wie es das jeweilige Spiel verlangt, damit sein Team gewinnt. Das kann bedeuten, dass er nur zuspielt und kaum Körbe wirft. Es kann aber auch bedeuten, dass er wie jüngst im ersten Spiel gegen Oklahoma spektakuläre 48 Punkte wirft. Nicht so seine US-Kollegen. Die meisten von ihnen kommen aus dem schwarzen Ghetto. Sie haben auf der Straße das Basketballspielen gelernt, und es ging ihnen immer darum aufzufallen. Nur so hatten sie eine Chance, von Scouts bemerkt zu werden und irgendwann einen Profivertrag zu bekommen.Den alten Kumpanen treuAm deutlichsten wurden diese Unterschiede in der Nachsaison des vergangenen Jahres. Der Vertrag von LeBron James, der von Nike als "der Auserwählte" vermarktet wird, bei seinem Stammverein Cleveland lief aus. James pokerte bis zum letzten Augenblick und verkündete dann in einer eigens inszenierten TV-Show, genannt "The Decision", dass er sich in Miami mit Dwayne Wade und Chris Bosch vereinigen werde, um dort als Supertrio zu reüssieren.Dirk Nowitzki, dessen Kontrakt ebenfalls endete, blieb hingegen da, wo er seit 1998 spielt - in Dallas. Man hatte dort erst vor anderthalb Jahren die Mannschaft umgebaut. Nowitzki wollte diese Arbeit nicht zerstören, und er wollte vor allen Dingen eines: den Titel holen. Dafür nahm er sogar eine Gehaltskürzung in Kauf.Jetzt steht Miami mit LeBron James und Dwyane Wade Nowitzkis Mavericks im Endspiel gegenüber. Es ist nicht nur ein pikantes Rematch, sondern auch ein Clash der Kulturen: die zusammengekaufte Supertruppe gegen die gewachsene Gemeinschaft loyaler Veteranen. Eine "Fertigmahlzeit gegen ein liebevoll aus frischen Zutaten zubereitetes Menü", wie die New York Times schrieb. Klare Vorteile sind dabei für keine der beiden Formationen auszumachen.Es hat lange gedauert, bis Dirk Nowitzki das Trauma des Jahres 2006 überwunden hatte. Und sie liegt ihm eigentlich nicht, die Rolle des unermüdlichen Antreibers. Doch er hat es sich antrainiert, das Führen und das Weiterkämpfen gemeinsam mit der Mannschaft, auch wenn es schwierig wird.Ein Egomane ist er nicht, dieser Dirk Nowitzki, und doch wäre ein Sieg über Miami vor allem sein Triumph. Das bescheinigt ihm jetzt schon die Fachwelt. "Damals, 2006, als wir gegeneinander gespielt haben, war er gut", sagt Dwyane Wade. "Jetzt ist er phänomenal." Es geht doch nichts über ein Lob des härtesten Gegners.------------------------------Foto: Diszipliniertes Genie mit Team-Geist: Dirk Nowitzki.