Seit zwei Wochen sucht die Hamburger Polizei einen ausgebrochenen Triebtäter, der drei junge Frauen getötet hat: Der "Heidemörder" ist allgegenwärtig
Dicke herbstliche Nebelschwaden ziehen seit der Nacht durch die Heide südlich von Hamburg. Auf den Koppeln rund um das Örtchen Holm-Seppensen sind die grasenden Reitpferde nur noch als Schemen auszumachen. Die Tiere haben jetzt Ruhe, die Sommerfrischler sind abgereist. Die Siedlung Holm-Seppensen kann dem Winter entgegendösen. Erst nachmittags schafft die Sonne den Durchbruch durch die milchige Suppe. Doch nicht für lange. Es wird wieder früh dunkel. Und mit der Kühle kehrt der Nebel zurück.Im November 1990 steht die 22jährige Kosmetikschülerin Lara Holz an einem solchen Abend im Nachbarort an der Straße. Sie hofft darauf, daß jemand sie im Auto mitnimmt. Zu Hause wartet das Abendbrot. Bald hält ein Renault. Thomas Holst, ein 26jähriger Computergraphiker aus Holm-Seppensen, läßt sie einsteigen. Lara Holz scheint Glück zu haben, schließlich kennt sie Holst, wie man sich eben in kleinen Gemeinden kennt. Auch als er sie einlädt, auf einen Sprung sein gemütliches Holzhaus im Wald anzusehen, schöpft sie keinen Verdacht.Fünf Tage später findet man Lara Holz in der Nähe, vergewaltigt, erdrosselt und bestialisch verstümmelt. Holst wird verdächtigt, angeklagt, verurteilt. Insgesamt drei Morde an jungen Frauen können ihm nachgewiesen werden. Bei drei anderen Frauenleichen, die in der weiteren Umgebung gefunden wurden, verliefen die Ermittlungen im Sande. Schließlich legt Holst ein Teilgeständnis ab und wird in eine psychiatrische Anstalt bei Hamburg eingewiesen. Die Presse gibt ihm den Namen "Heidemörder". Rätselhafte Flucht Seit zwei Wochen ist er wieder frei. Holst gelang es, aus einem modernen Hochsicherheitsgebäude zu flüchten. Wie, ist noch ein Rätsel. Die Polizei verdächtigt eine Psychotherapeutin der Anstalt, ihm aus Zuneigung geholfen zu haben. Jedenfalls ist er seitdem untergetaucht. Die Spur endet an dem Strick, mit dem sich der Psychopath vom Dach der Anstalt abseilte."Natürlich hält er sich hier irgendwo versteckt", sagt Irma Wappke (Name auf Wunsch der Betroffenen geändert), eine Nachbarin aus der Siedlung Holm-Seppensen. "Das ist ein idealer Ort für ihn. Hier stehen eine Menge Wochenendhäuser ständig leer. Und er weiß, wo sie zu finden sind. Schließlich ist er früher mit seinen Hunden kreuz und quer durch den Wald gelaufen." Da hat ihn auch Irma Wappke kennengelernt, so von Hundehalter zu Hundehalter. "Ein völlig normaler Mensch war der", erinnert sie sich, höflich, freundlich, zurückhaltend. Niemand im Ort konnte sich vorstellen, daß Holst morden könnte. Jetzt hat Irma Wappke Angst. Und Wut. Auf die Polizei, auf die Psychiatrie: "Von wegen Sicherheitsverwahrung!" Vielleicht in Holland In dem Holzhaus Falkenstraße 46, wo Thomas Holst einst lebte, wohnt inzwischen eine Physiotherapeutin mit ihrem erwachsenen Sohn. Das Angebot der Tochter, vorübergehend wegzuziehen, hat Ursula Vedderitz ausgeschlagen. "Ich kenne ihn ja nicht, habe ihm nichts getan", sagt sie. Außerdem sei sie nicht sein Typ: "Der bevorzugt junge, zierliche Fauen", hat sie beim Vergleich der Bilder der Opfer festgestellt. Freilich: Als am Morgen nach der Flucht von Tomas Holst das Telefon bei ihr mehrfach klingelt, sich aber niemand meldet, als sie abhebt, wird sie stutzig. Doch als Ursula Vedderitz das bei der Polizei meldet, zeigt die sich kaum interessiert. "Bitte vergessen Sie mich nicht ganz", beendet sie das Gespräch. Eine Streife sei aber seitdem auch nicht aufgetaucht.Polizeirat Uwe Lehne ist vor Ort für den Fall zuständig, auch wenn die Fahndung insgesamt von Hamburg aus geleitet wird. "Was nützt es, wenn wir zwei Streifenwagen mehr durch die Straßen fahren lassen?" fragt er. Den Täter fange man so nicht. Womit er sicherlich recht hat. Nur die Nervosität der Einwohner von Holm-Seppensen würde wachsen, meint der Kriminalist. Da könnte er sich irren. Eine gedrückte Stimmung liegt über der Siedlung. Das Thema "Heidemörder" ist allgegenwärtig, auch wenn die meisten nicht gern darüber reden. "Ich habe meinen beiden Töchtern eingeschärft, nur in der Gruppe vom Nachmittagssport zurückzukommen", sagt die Apothekerin des Ortes. Viel mehr könne sie ja nicht tun. Am Abend ist der Ort wie ausgestorben.Nur vor der Gaststätte Heidehof lümmeln einige Jugendliche auf der Bank. "Mit solchen Typen sollte man verfahren wie in den USA", sagt Steven und spielt mit seiner Bierbüchse. "Aber leider ist die Todesstrafe hier verboten." Die anderen teilen seine Ansicht. Die Truppe bastelt an der Idee, eine "Bürgerwehr" aufzubauen. "Das wäre doch mal was, hier ist ja sonst nichts los", findet Steven."Wozu eine Bürgerwehr, wir haben keinen einzigen konkreten Hinweis, daß sich Holst in Holm-Seppensen aufhält", wehrt Polizeirat Lehne ab. Wo aber dann? "In Deutschland", sagt der Kriminalist ausweichend. Warum dann nicht gleich im Ausland? Holland ist nahe. Das hätte Sinn, wenn sich der Mörder unerkannt ein neues Leben aufbauen wollte. Holst hat aber Rache geschworen. Rache an den Leuten, die vor Gericht gegen ihn ausgesagt haben. Allen voran an seiner ehemaligen Verlobten.Bundesweit läuft die Fahndung. 400 Hinweise seien eingegangen, erklärt Michael Wenig vom Hamburger Polizeipräsidium, aber Brauchbares sei nicht darunter. Kein Wunder: das Foto, das die Polizei unmittelbar nach der Flucht von Thomas Holst veröffentlicht, ist mehrere Jahre alt. Erst jetzt steht ein aktuelles Konterfei zur Verfügung. Wertvolle Zeit ging verloren.Es ist nicht die einzige schwere Panne im Fall Holst. Für die Mutter von Lara Holz, die Lehrerin Britta Hellbing, ist das ganze Verfahren ein einziger großer Skandal. "In unserem Rechtssystem muß sich grundlegend etwas ändern", sagt sie verbittert. Sie kann dem Mörder ihrer Tochter nicht verzeihen. Und auch nicht den Behörden.1988 stand Thomas Holst das erste Mal vor Gericht: Er hatte an einem dunklen Januarabend auf der Straße eine 19jährige Gymnasiastin mit einem Klappmesser abgefangen und sie in seine Wohnung genötigt. Dort fessselte und knebelte er sie, um sie dann zu vergewaltigen. Am Ende ließ er sie aber am Leben. Aus der Sicht des intelligenten Psychopathen ein schwerer Fehler. Denn die junge Frau erstattete Anzeige.Zunächst traf der Täter allerdings auf extrem verständnisvolle Richter. Da sich die Schülerin in ihrer Todesangst nicht wehrte, wurde Holst von der Anklage der Vergewaltigung freigesprochen. Vielleicht, mutmaßten die Juristen, sei der Geschlechtsverkehr ja auch freiwillig zustande gekommen. Immerhin verurteilte das Gericht Holst wegen Nötigung, Freiheitsberaubung und vorsätzlicher Körperverletzung. Doch dafür reiche eine Bewährungsstrafe aus, so die Hüter der Rechtsordnung. Zu jener Zeit hatte Thomas Holst bereits seine ersten beiden Morde begangen. Kurz darauf tötete er Lara Holz.Auch bei dem Prozeß um ihren Tod kam Holst glimpflich davon. Zwar waren der jungen Frau eine Hand abgehackt worden und die Finger der anderen; zwar hatte Holst die Augenlider von Lara Holz herausgeschnitten; aber das Gericht in Stade konnte sich nicht dazu durchringen, von Vergewaltigung und Mord zu sprechen. Lediglich Nötigung und Totschlag hielten die Richter für erwiesen. Als sie ihr Urteil fällten, war ihnen bereits bekannt, daß Thomas Holst sich vor einem Hamburger Gericht wegen der zwei anderen Morde verantworten mußte. Prozeßbeobachter hielten das Urteil für einen Skandal."Ach wissen Sie", sagt Ursula Vedderitz und schaut aus dem Fenster des Hauses, in dem Lara Holz umgebracht wurde, "solange Männer als Richter in solchen Prozessen auftreten, müssen wir Frauen mit der Angst weiterleben." Seite 4 +++