"Spione": Marcel Beyers gelungener Versuch über das Sehen und das Sichtbare: Die Lüge im Visier
Marcel Beyer ist einer der wenigen deutschsprachigen Schriftsteller seiner Generation, die nicht nur alle paar Jahre ein neues Buch veröffentlichen, sondern Bücher erarbeiten, deren Summe den Begriff des literarischen Werkes verdient. Das ist keine Frage der Quantität, Beyer ist alles andere als ein Vielschreiber. Aber er ist ein Autor, der beharrlich ein Thema, ein Interesse verfolgt, das er von Roman zu Roman angeht und variiert. Er ist spezialisiert auf die Verknüpfung von Mediengeschichte und einer Phänomenologie der Sinne. In seinem Roman "Flughunde" aus dem Jahr 1995 brachte er das Kunststück fertig, die Theorie der medialen Verfasstheit unserer sinnlichen Wahrnehmung auf der Bühne einer packenden historischen Recherche zu inszenieren, die ihn in die Zeit des Nationalsozialismus führte. "Flughunde" ist ein Roman über Akustik, über ihren Einsatz als Hitlers Hauptpropagandamittel. Das Buch, das einem Meisterwerk wie "Flughunde" folgt, hat es nicht gerade leicht. Es muss besser sein, um als brillant zu wirken, noch einfallsreicher, um nicht als zweitklassig zu gelten. "Spione", Marcel Beyers neuem Roman, ist von diesem Druck bewundernswert wenig anzumerken. Dieser 35 Jahre alte Schriftsteller ist tatsächlich ein souveräner Kopf - und er bleibt, ohne eine Spur von Stagnation, bei seinem Thema. Denn in "Spione" geht es um Optik, um das Sehen mit dem Auge und um das Sehen mit all jenen Hilfs- und Verstärkungsmitteln, vom Fernglas bis zum Fotoapparat und militärischer Radargerätschaft, die die Technik hervorgebracht hat. Und es geht wieder um eine Recherche, die in die Vergangenheit führt. Die äußere Form dieser Recherche ist diesmal nicht der historische, sondern der Familienroman. Vier Jugendliche, fast noch Kinder, Carl, Paulina, Nora und ihr gemeinsamer Cousin, der Ich-Erzähler, spielen Emil und die Detektive und sind einer brennenden Frage auf der Spur: dem Verschwinden der Großeltern aus dem familiären Gedächtnis und den Mitteilungen ihrer Eltern. Sie ermitteln, sie finden ein Fotoalbum mit auffällig fehlenden, entfernten Bildern und mit Bildern, die sie darauf schließen lassen, dass ihre Großmutter eine erfolgreiche Opernsängerin und ihr Großvater an der klandestinen "Legion Condor" beteiligt war, dem Geheimeinsatz der deutschen Luftwaffe im Spanischen Bürgerkrieg. Sie jagen Indizien, um ihren Verdacht zu bestätigen, dass dieser Großvater mit seiner zweiten, despotischen Ehefrau ganz in ihrer Nähe lebt und sie heimlich beobachtet - so wie umgekehrt sie ihn beobachten. Sie finden - und vor allem: sie erfinden die dramatischen Vorgänge ihrer Familiengeschichte, über der das Schweigen wie eine Grabplatte liegt. Und sie steuern mit ihren Ermittlungen und Spekulationen den Roman in ein prekäres Grenzgebiet zwischen zuverlässiger und unzuverlässiger Erzählerschaft. Ihren Autor stellen die vier kleinen Spione damit vor ein erhebliches erzählerisches Problem. So plausibel wie nötig und so dezent wie nötig muss er markieren, wann von Tatsachen die Rede ist und wann seinem Erzähler, der mehr erzählt, als er genau genommen wissen kann, die Fantasie durchgeht. Die Geschichte seiner Familie ist ein einziges Netz aus Lügen und Heimlichkeiten, Vertuschungen und Verdrängungen. Aber wie stark ist der Roman selbst am Ausbau dieses Netzes beteiligt? Denn gelogen haben in dieser Sippschaft alle. Der Großvater verheimlichte in den 30er-Jahren seiner damaligen Verlobten die Wahrheit seiner militärischen Aufträge und Einsätze. Gemeinsam verheimlicht das ein paar Jahre später verheiratete Paar seinen zwei Kindern, - den Eltern der vier Cousinen und Cousins, - die Schwere der Krankheit, an der die Mutter litt. Sie kam ins Krankenhaus und laut Familienversion dort nie mehr heraus. Ihr Enkel aber, der Ich-Erzähler, entdeckt gegen Ende des Romans, dass sie gar nicht gestorben ist, sondern auf den Opernbühnen der Welt auftrat, sich aber vor den Kindern verbarg, um ihnen nicht den Glauben an ihre Lebensgeschichte zu zerstören. Jene wiederum verheimlichen ihren Kindern den Schmerz und die Demütigung ihrer Jugend. Sie wurden von der Stiefmutter aus dem Haus gejagt und auf ihr Betreiben hin vom eigenen Vater im Stich gelassen und verleugnet. Ohne Marcel Beyers kunstvoll verlangsamter, zwischen Indikativ und Konjunktiv tastender Erzählweise, ohne seine Sprache, die weniger auf Behauptungen, denn auf Fragen zielt, wäre "Spione" mit seinen abenteuerlichen narrativen Kurven vermutlich eine Schmonzette. Die Romanerzählung erstreckt sich über ein knappes halbes Jahrhundert. Sie verfolgt die Geschichte der Enkel bis in die Gegenwart, berichtet von ihren immer loser werdenden Kontakten im Erwachsenenalter, von Noras Abgleiten in die deutsche Terroristenszene in den 70er-Jahren, von den Forschungen, die der Erzähler auf eigene Faust anstellt, um die Großmutter zu finden und den Großvater in den Blick zu bekommen. Nie ist er sich sicher, ob er sich täuscht, ob er Bilder mit Phantomen, das Sichtbare mit Einbildungen verwechselt. Er ist ein Kind jener Nachkriegsgeneration, die das Schweigen über die Geschichte des Nationalsozialismus zum Generalvorwurf an die Eltern, die Kriegsgeneration, machte, und zugleich Halbwahrheiten und diffuse Bilder an die Nachfahren weiterreichte. Marcel Beyer ist viel zu intelligent, um als Moralist deutscher Geschichtsbewältigung aufzutreten. Ihn interessieren Phänomene. Ihn interessiert der Zusammenhang von innerem und äußerem Sehen, von der Verlässlichkeit des Bildes und der Möglichkeit des Erkennens. Darüber hat er einen gelungenen Versuch in literarischer Form verfasst.Marcel Beyer: Spione. Roman. DuMont Buchverlag, Köln, 2000. 306 S. , 39,80 Mark.AKG Was wir erkennen, erkennen wir durch Medien