Das ist hohe Fußballkunst: Union Berlin schafft mit Minimalismus Surreales
Das Team des 1. FC Union macht auch in Leipzig einfach sein Ding und siegt. Was die Frage aufwirft, gegen wen die Eisernen überhaupt noch verlieren könnten.

Es gibt zwei berühmte Schweizer namens Urs Fischer. Der eine ist ein zeitgenössischer Künstler mit Ausstellungen in den bedeutendsten Museen der Welt, wohnhaft in New York, der andere Trainer des 1. FC Union Berlin mit Auftritten in Bundesliga, DFB-Pokal und Europa League. Wobei der aus Köpenick in gewisser Weise auch ein Künstler ist.
Wie man auf so einen verqueren Einstieg kommt? Nun, zum einen treibt den Autor dieser Zeilen schon länger die Idee um, dass man eines Tages Fischer und Fischer für ein gemeinsames Interview in Galerie, Stadion oder sonst irgendwo zusammenbringt. Zum anderen schwirrten am Sonnabend nach dem 2:1 der Eisernen bei RB Leipzig wiederholt Begriffe aus der Welt der Kunst durch den Raum.
Fischer, der Fußballlehrer, wurde gleich bei mehreren Interviews, zuletzt auch in einem für das „Aktuelle Sportstudio“, mit folgender Einschätzung vorstellig: „Das hier ist doch alles surreal.“ Wortgleiches gab auch Rani Khedira, der fabelhafte Mittelfeldspieler, zum Besten, und ergänzte: „Wir wissen auch manchmal nicht so richtig, warum wir das ziehen. Es ist kein schöner Sieg, aber ein Sieg der Moral.“ In mehreren Expertenrunden wurden die Unioner zudem als Minimalisten gefeiert, die Süddeutsche Zeitung bezeichnete die Köpenicker gar als Meister des Minimalismus.
Und es stimmt schon: Mit einfachen, aber keineswegs plumpen Mitteln sowie mit einer klaren Struktur kommen die Köpenicker in serieller Wiederholung zu Erfolgen und schaffen damit Unwirkliches, Fantastisches, Traumhaftes. In Zahlen ausgedrückt: 42 Punkte aus 20 Spielen, Tabellenplatz zwei in der Liga, Viertelfinale im DFB-Pokal, Sechzehntelfinale in der Europa League.
Fünf Siege in Serie
Woher das alles kommt? Nun, hören wir doch einfach mal bei einem der fähigsten Schüler von Fischer rein, nämlich bei Janik Haberer, der gegen RB in der 61. Minute mit einem kunstvollen (!) Volleyschuss das 1:1 erzielte, bevor Robin Knoche in der 71. Minute mit einem ziemlich sicher verwandelten Handelfmeter den Siegtreffer markieren konnte. Haberer sagte: „Wir haben heute ein Tor mehr geschossen, deshalb gehen wir als Sieger vom Platz.“ Klingt nach Magischem Realismus, oder etwa nicht?
Da das mit dem „als Sieger vom Platz gehen“ zuletzt fünfmal in Serie der Fall war, drängt sich jedenfalls die Frage auf, ob der 1. FC Union Berlin sogar Meister werden kann. Klar, kann er, lautet die Antwort, weil man sich im Februar 2023 ja auch die Frage stellen muss, gegen wen die Eisernen in den kommenden Wochen eigentlich noch verlieren könnten. Womöglich gegen die Bayern, ja, vielleicht auch gegen die formstarken Dortmunder, aber dann?

Am ehesten hätte man noch den Leipzigern einen Sieg gegen Union zugetraut. Voller Selbstbewusstsein waren sie folglich einer beeindruckenden Erfolgsserie in die Partie gegangen, mussten dann aber mit ansehen, wie die Eisernen trotz des Gegentreffers durch Benjamin Henrichs (24.) einfach ihr Ding machten. Also schließlich das auf den Platz brachten, was sie sich auch vorgenommen hatten. Gemäß der Überzeugung: Wenn jeder von uns seinen Job ordentlich erledigt, werden wir zum einen nur schwerlich zu besiegen sein, zum anderen zu Chancen kommen. Und die muss man dann halt nutzen.
Gießelmanns einfache Rechnung
Auch andere Mannschaften nehmen sich dergleichen vor, scheitern aber immer wieder gern mal daran, weil sie durch Rückschläge im Kleinen (verlorener Zweikampf, Fehlpass) wie im Großen (im Besonderen Gegentore) ins Zweifeln kommen oder eben einfach nicht gut genug besetzt sind, um mehr zu sein als ein Abstiegskandidat. Für diese Teams, zu denen auch das von Hertha BSC zu zählen ist, stellt sich dann eher die Frage. Gegen wen könnten die denn eigentlich noch gewinnen?

In diesem Zusammenhang lassen wir noch mal einen Vertreter des Magischen Realismus zu Wort kommen. Niko Gießelmann heißt er, bereitete mit seinem Eckstoß den Treffer seines Kollegen Haberer vor. Gießelmann erklärte nach dem Sieg bei RB: „Wenn wir jetzt alles gewinnen, dann werden wir Deutscher Meister.“ Stimmt.
Schließen wollen wir aber mit einem Satz von Urs Fischer, dem Künstler. Vor eineinhalb Jahren kam er in einem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung hinsichtlich seines Aufstiegs zu einem globalen Star zu einem Schluss, der auch von seinem Namensvetter stammen könnte. Fischer sagte: „Ich bin derzeit vielleicht erfolgreich, aber ich habe es deshalb nicht geschafft.“