Das System Fischer
Das Duell des 1. FC Union Berlin gegen den FC Bayern München ist auch ein Duell zweier völlig unterschiedlicher Trainernaturen.

Wenn der FC Bayern den 1. FC Union zum Spiel um die Spitze in der Fußballbundesliga empfängt, ist das zunächst ein Duell zwischen Establishment und Rebell. Mit ihrem Trainer spielen die Eisernen hingegen gerade in einer höheren Liga als Deutschlands Rekordmeister.
Nicht zu überhören war der Aufschrei, als Julian Nagelsmann am vergangenen Spieltag die Unparteiischen als „weichgespültes Pack“ beschimpft hatte. Mit dem Coach des FC Bayern München waren schlichtweg die Pferde durchgegangen. Dabei waren weder der Schiedsrichter Tobias Welz noch der Video-Assistent Tobias Stieler einem Irrtum erlegen, als sie in gemeinsamer Entscheidung Bayerns Abwehrchef Dayot Upamecano – für die Defensive des deutschen Rekordmeisters ein enorm wichtiger Baustein, trotzdem für den einen oder anderen Wackler gut – bei der 2:3-Niederlage in Mönchengladbach nach acht Minuten wegen einer Notbremse vom Platz stellten.
Der Trainer des deutschen Vorzeigevereins von der Rolle und ein mieser Verlierer? Das ist ganz und gar nicht nach Art des Hauses in der Säbener Straße in München. Dort kommt der Trainer, die Galerie führt von Giovanni Trapattoni über Ottmar Hitzfeld, Jupp Heynckes und Pep Guardiola zu Carlo Ancelotti, als Gentleman daher. Die Abteilung Attacke haben seit jeher andere zu bedienen, in der Vergangenheit und über Jahrzehnte mit Uli Hoeneß der Manager, jetzt macht es Vorstandsboss Oliver Kahn.
Erschwerend kommt bei Nagelsmann hinzu, dass er mit Bayern München nach der TSG Hoffenheim und RB Leipzig zwar immerhin bereits das dritte Bundesligateam betreut, mit 35 Jahren aber für viele noch immer ein Grünschnabel ist. Ein mehr oder weniger verwöhnter Junge, der das unverschämte Glück hatte, neben seinen durchaus vorhandenen fachlichen Fähigkeiten zur richtigen Zeit am richtigen Platz gewesen zu sein. Einer wie Lutz Michael Fröhlich, Schiedsrichterboss beim Deutschen Fußball-Bund (DFB), könnte, da 30 Jahre älter als Nagelsmann, dessen Vater sein. Fröhlich jedenfalls bezeichnet Nagelsmanns Wortwahl als „abgrundtief respektlos“. Bei manchen, die es derber mögen, rutscht schon mal ein Rotzlöffel heraus.
Für seine Entgleisung wurde Nagelsmann vom DFB zu einer Geldstrafe von 50.000 Euro verdonnert. Die ärgert ihn, haut ihn aber nicht um. Was für viele andere mehr ist als ein Jahresgehalt, ist für einen Trainer der Kategorie Bayern München wenig mehr als ein Tagessatz. Was Bayerns neuen, in dieser Rolle aber nicht gern gelittenen Lautsprecher vielleicht mehr trifft, ist der Gegner am Sonntag, ist der 1. FC Union. Durch die Niederlage der Münchner in Mönchengladbach sind die Eisernen punktgleich mit dem Rekordmeister und damit auf Augenhöhe. Ein weiterer Ausrutscher, dann ist die Tabellenführung für die Bayern futsch.
Außerdem bekommt es Nagelsmann mit seinem totalen Gegenentwurf zu tun. Urs Fischer, Schweizer, am Montag 57 geworden und menschlich viel reifer als der Springinsfeld, kam 2018 als zweifacher Schweizer Meister mit dem FC Basel und dazu als Pokalsieger nach Köpenick. Allein mit diesen Meriten, die längst nicht komplett sind, hat er seine Teams zu mehr großen Titeln geführt als Nagelsmann, wenn auch in einer anderen Liga. Dafür hat Fischer, ja, auch mit dem 1. FC Union, schon kräftig auf den Pelz bekommen, im Herbst erst mit 0:5 in Leverkusen und mit 1:4 in Freiburg. Auch in München hat es im vorigen Frühjahr mit einem 0:4 ziemlich gescheppert, was in der Arena in Fröttmaning sogar Teams ganz anderen Kalibers passiert ist und, selbst wenn es wieder vorkommt, zu keinerlei Depressionen führen sollte.
Nur, und das ist das vielleicht Bemerkenswerteste: Fischer hat sich in seinem Wesen kaum verändert. Nicht einmal jetzt, da der 1. FC Union zum punktgleichen Spitzentrio – neben den Münchnern ist Borussia Dortmund dabei – gehört. Mit seiner bedachten und sachlichen Art strahlt der Trainer von Christopher Trimmel und dessen Mitspielern eine enorme Ruhe aus und überträgt diese auf seine Mannschaft. Selbst nach krachenden Niederlagen erscheint er ausgeglichen und reflektiert. Aus der Haut fahren, wenn es mal nicht so läuft, wie er sich das vorstellt, kann er auch. Dann wird es sogar laut. Aber nur, wenn es wirklich nötig ist. Es gibt kaum einen Spieler, der das nicht schon erfahren hätte. Marcus Ingvartsen, inzwischen für Mainz 05 in der Offensive dabei, hat sein Fett abbekommen, und Polens Nationalspieler Tymoteusz Puchacz, im Vorjahr schon in die Türkei an Trabzonspor ausgeliehen und seit der Winterpause nach Griechenland an Panathinaikos Athen, ebenso.

Fischer hat bei aller Nahbarkeit seine Prinzipien, völlig klar, die will er auch eingehalten wissen. In erster Linie erwartet er von seinen Spielern Disziplin und Zuverlässigkeit, am besten im Doppelpack. Das betrifft bei gegnerischem Ballbesitz vor allem das Rückzugsverhalten. Selbst Sheraldo Becker, mit sieben Treffern bester Saisontorschütze der Köpenicker und in früheren, noch wilderen Jahren höchstens beim Anstoß in der eigenen Hälfte zu finden, hat dieses eiserne Fischer-Credo verinnerlicht. Am eindrucksvollsten haben sie es erst wieder am Donnerstag gezeigt, beim 3:1 gegen Ajax Amsterdam, mit dem sie dem Märchen von Europa das nächste Kapitel hinzugefügt haben. Da läuft Becker in bester Usain-Bolt-Manier mögliche Ajax-Konter ab, Kevin Behrens, sein Sturmpartner an diesem Abend in Köpenick, blockt gegnerische Torschüsse zur Ecke – die eiserne Maschine läuft auch gegen ein europäisches Schwergewicht wie geölt.
Der Erfolg sind die Zahlen, insbesondere die der Gegentore. In Europa haben sie in fünf Spielen hintereinander die Null gehalten. Lediglich 24 haben sie in der Bundesliga kassiert in bisher 21 Saisonspielen. Nur die Bayern haben eine um drei Treffer stabilere Abwehr. In der Vorsaison waren die Eisernen in dieser Wertung Dritter und in der Spielzeit davor auch. Das zeigt, dass sie sich auf hohem Niveau eingepegelt haben und der aktuelle Höhenflug satt unterfüttert ist. Es zeigt zugleich, dass die Basis stimmt, die Chemie untereinander. Auch menschlich.
Nach Pressekonferenzen vor einem Spieltag, wenn die Zahl der Medienvertreter halbwegs überschaubar ist, geht Fischer nach dem Frage-Antwort-Spiel durch die Reihen und heißt jeden Anwesenden mit Handschlag willkommen. Das zeugt von Respekt und Größe, von Empathie, Augenhöhe, und noch mehr von menschlicher Wärme, von Vertrauen und dem Signal an das jeweilige Gegenüber, bereit zu sein, notfalls gemeinsam Pferde stehlen zu gehen. Für einen solchen Typ Trainer, der sein System zur Perfektion treibt und damit ein Bessermacher ist, geht ein Spieler durchs Feuer. Michael Parensen, Technischer Direktor der Lizenzspielerabteilung und in den beiden ersten Fischer-Jahren noch Spieler, lüftet ein wenig das Geheimnis, das eigentlich gar keines ist, und sagt: „Die große Stärke von Urs Fischer ist, dass er alles zum Wohl des Vereins entscheidet, seine Entscheidungen den Spielern erklärt und alles ganz großartig moderiert.“
Was hätte Fischer womöglich an Nagelsmanns Stelle beim Upamecano-Rot getan? Beim Schweizer ist es gut vorstellbar, dass er von einer unglücklichen Situation gesprochen, den Spieler trotzdem in Schutz genommen, die Entscheidung des Schiedsrichters zähneknirschend akzeptiert hätte, aber nie ausfallend geworden wäre. Auf diese Idee wäre er nicht einmal gekommen, obwohl er weiß, dass sein Schwyzerdütsch weicher und einschmeichelnder klingt als ein beleidigtes, bayerisch akzentuiertes Nagelsmann-Motzen, bei dem einen das Gefühl beschleicht, da warte noch jemand auf seinen Stimmbruch. Einen Spieler von der Güte des Bayern-Abwehrchefs, zumal in Katar mit Frankreich Vizeweltmeister geworden, hätte sich Fischer separat vorgenommen und ihm eingetrichtert, lieber ein frühes Gegentor zu riskieren als eine frühe Rote Karte. Einen Rückstand aufzuholen, das sollten sich die Bayern nämlich allemal zutrauen, selbst der 1. FC Union hat das in jüngster Zeit des Öfteren geschafft. In Upamecanos Fall waren noch mehr als 80 Minuten zu spielen.
So eine oder eine ähnliche Reaktion hätte Größe besessen. Fischer ist sie zuzutrauen. Deshalb sollte Nagelsmann diesmal auch ein wenig auf seinen Trainer-Widerpart schielen. Der ist am Sonntag zwar sein Gegner im Spiel um die Tabellenspitze, an allen anderen Tagen im Jahr aber ein ganz und gar geerdeter und mit allen Fasern in sich ruhender Kollege.