Interview mit Union-Fan Claus Peymann: „Köpenick ist das beste Fußballdorf Europas!“

Der große Theatermann über einen Sommernachtstraum im Stadion der Eisernen und über die Parallelen zwischen dem 1. FC Union und dem Berliner Ensemble.

Claus Peymann lebt seit mehr als 20 Jahren in Köpenick.
Claus Peymann lebt seit mehr als 20 Jahren in Köpenick.Markus Wächter/Berliner Zeitung

Seit mehr als 20 Jahren lebt Claus Peymann in Köpenick, in einer Villa zur Miete, nahe am Strandbad Wendenschloss gelegen, das mit dem folgenden Adjektiv wohl ziemlich gut beschrieben ist: wunderschön.

Der 85-Jährige, der mit seiner Arbeit (nicht nur) in Stuttgart, Bochum und am Wiener Burgtheater Theatergeschichte geschrieben und zuletzt das Berliner Ensemble vor der Schließung gerettet und ihm zu Schlagzeilen, Ruhm und zu bis dato unerreichten Besucherzahlen verholfen hat, führt erst mal durch den Garten, für dessen wilde Schönheit sich seit geraumer Zeit auch Dachse, Waschbären und Wildschweine interessieren. Vor einer kleinen Bühne, die ihm – zum 80. Geburtstag – Freunde über Nacht in den Garten gestellt haben, geht er für ein paar Fotos in Position, kommt dabei sogleich ins Plaudern.

Peymann erzählt von Jürgen Flimm, dessen Tod „uns alle“ traurig gemacht habe. Ein großer Theatermann sei das gewesen, ein großer Fußballfan zudem, qua Geburt im Besonderen ein Anhänger des 1. FC Köln. „Er war“, so Peymann, „als ich das letzte Mal mit ihm gesprochen habe, ganz neidisch, dass ich mit einem Fußballmagazin ein Interview mache. Das hätte er nämlich selbst gern mal gemacht.“

Apropos Freunde: Peymann kommt auf den Literaturnobelpreisträger Peter Handke zu sprechen. „Der fragt mich bei unseren Treffen, so wie neulich in Paris, immer als Erstes: Und, wie hat Union gespielt?“

Er sei eine „Quatschnase“, sagt Peymann über sich selbst kurz vor dem Gespräch, das schließlich in einem karg möblierten Zimmer im Erdgeschoss des Hauses stattfindet. Doch: Peymann hat viel zu sagen und viel zu erzählen. Unter anderem über die Gemeinsamkeiten von Theater und Fußball, über sein Faible für den 1. FC Union Berlin und über eine magische Sommernacht in Köpenick.

Herr Peymann, manch einer sagt, Theater müsse wie Fußball sein, um die Gunst des Publikums wiederzugewinnen. Wie sehen Sie das?

Ich habe das Berliner Ensemble 18 Jahre lang (von 1999 bis 2017, Anm. d. R.) wie einen Fußballklub geleitet, wie einen Ost-Verein, könnte man auch sagen. Frank Castorf hatte OST auf’s Dach der Volksbühne geschrieben, und wir haben’s gemacht, wir haben in gewisser Weise die Wiedervereinigung gelebt, denn bei uns haben die Ost- und die West-Schauspielerinnen und -Schauspieler, alt und jung, zusammen gespielt und voneinander gelernt, auf Augenhöhe, ohne falsche Überheblichkeit. Ein Berliner Ensemble!

Und Sie waren dabei zugleich Klubpräsident, Cheftrainer und der Star der Unternehmung?

Und wenn’s nötig war, auch der Masseur und Mannschaftsarzt! (lacht) Wissen Sie, die Arbeit des Theaterregisseurs wird seit jeher überschätzt. Das sind keine Könige. Wir sind Teamplayer! Deshalb wundere ich mich immer, wenn Kritiker sich über Seiten hinweg mit dem Regisseur auseinandersetzen und erst im letzten Absatz mit den Schauspielern. Ohne Traugott Buhre oder Kirsten Dene, Carmen-Maja Antoni oder Ulrich Mühe bin ich doch eine Null. Ich bin nur der Kapellmeister. Sicher, ich muss die Bude heizen, die Schauspieler anzünden, sie an die richtige Stelle stellen. Und den Raum dafür erfinden. Aber dann passiert etwas, was sich meiner Kontrolle entzieht. Die Schauspieler spielen zusammen – und siegen; sie schaffen das Wunder, den magischen Moment! Und es ist ihr Geheimnis, wie sie das machen. Das Gleiche gilt für jeden Fußballtrainer: Das Tor schießt letztlich der Spieler (oder eben nicht)!

Claus Peymann im Garten der von ihm bewohnten Villa in Köpenick
Claus Peymann im Garten der von ihm bewohnten Villa in KöpenickMarkus Wächter/Berliner Zeitung

Man muss Sie gar nicht nach den Parallelen zwischen Theater und Fußball fragen, Sie kommen selbst darauf zu sprechen.

Es gibt eine viel engere Verbindung, als man vermuten würde. Ich möchte sogar von einer Verwandtschaft sprechen, von der Verwandtschaft im Widerspruch zwischen Sich-selbst-Darstellen und Sich-in-den-Dienst-Stellen. Und da wie dort geht es vor allem ums Staunenmachen. Es ist doch bezeichnend, dass es unter den Theaterleuten viel mehr Fußballfans (und Experten!) gibt als in anderen Berufen. Es gibt immer die Bayern-Front und die Ruhrpott-Front. Und diejenigen, die sich für alle Zeiten nur ihrem Heimatverein verbunden fühlen …

Das ist in Ihrem Fall als gebürtiger Bremer der SV Werder.

Ich habe als Kind mal selbst für Werder gespielt. Und insgeheim schlägt mein Herz natürlich immer noch für die Sphinx des Nordens. Lebenslang Grün-Weiß! Doch wenn man seit über 20 Jahren in Köpenick zu Hause ist, bleibt einem ja gar nichts anderes übrig, als für den 1. FC Union Berlin zu sein. Sonst bekommt man hier morgens nicht mal seine Brötchen. (lacht) Aber ganz ehrlich: Das mit Union ist schon was Tolles. Ja, ich verspüre eine echte Leidenschaft für die Eisernen. Dieses Aus-dem-Herzen-Spielen, dieses Um-eine-Identität-Spielen, dieser Kampfgeist, auf dem Rasen und drumherum – all das ist wirklich etwas Besonderes.

Gab es für Sie in Bezug auf den 1. FC Union Berlin so eine Art Aha-Effekt?

Eine meiner schönsten Köpenicker Nächte war eine im Sommer 2014, während der Weltmeisterschaft in Brasilien. Es war so ein typischer Köpenicker Trostlostag, es war mild, aber es regnete ohne Unterlass. Da bin ich nach dem Theater bei der Alten Försterei vorbeigefahren. Niemand war da, nur ein paar herumstreunende Katzen. Alles nass. Aber das ganze Stadion stand – wie im Schlaf – für das Public Viewing voller Sofas, Sessel, Liegestühle und Luftmatratzen! Das hatte eine unglaubliche Poesie, wie man sie sonst nur im Theater erlebt. Das war ein wunderbarer Anblick, ein Sommernachtstraum! So schön.

Public Viewing im Stadion An der Alten Försterei während der WM 2006
Public Viewing im Stadion An der Alten Försterei während der WM 2006Sebastian Wells/Imago

In der Tat eine verdammt gute Idee ...

Oder die Aktion beim ersten Bundesligaspiel gegen RB Leipzig, mit den großen Schwarz-Weiß-Bildern der verstorbenen Fans, die vor dem Spiel in die Höhe gehalten wurden. Familiäre Trauer von über 20.000 Menschen. Traurig und heiter zugleich. Das hat mich berührt. Oder das Weihnachtssingen, mit dem größten Chor, den es je gegeben hat. Eine Erfindung aus Köpenick ist das, die zum Exportschlager geworden ist! Und jetzt ist das ein Verein auf Weltklasseniveau! Ja, das Große kommt immer aus dem Kleinen. Oder, anders: Köpenick ist das beste Fußballdorf Europas! Stellen Sie sich vor: Das Licht vom Stadion leuchtet am Himmel bis zu meinem Garten … Und dieses Wunder erlebe ich hier, als zugereister Hanseat.

Lesen Sie morgen in Teil 2 des Interviews, was Claus Peymann für die Zukunft des Berliner Fußballs prognostiziert.

Dieser Text ist zuerst im Eisern Magazin Nr. 7 erschienen, erhältlich im Aboshop der Berliner Zeitung (aboshop.berliner-zeitung.de), im Union-Zeughaus und natürlich am Kiosk.