Könige der Standards: Warum Union Ecken, aber keine Elfmeter kann
Kein anderer Bundesligaklub erzielt so viele Tore nach Freistößen und Ecken wie der 1. FC Union. Das ist kein Zufall. Es ist auch das Verdienst des Assistenztrainers Sebastian Bönig.

Es ist noch gar nicht so lange her, da machte eine Bemerkung von Urs Fischer die Runde, mit der in dieser Phase die wenigsten gerechnet hatten. „Standards können Spiele entscheiden“, sagte der Trainer des 1. FC Union Berlin, „da haben wir noch Potenzial.“ Dabei hatten die Eisernen soeben den Auftakt der Restsaison mit 3:1 gegen die TSG Hoffenheim gewonnen. Bemerkenswert an diesem Spielausgang war, dass Danilho Doekhi, dem Verteidiger, zwei Kopfballtore gelangen, und zwar jeweils nach Ecken von Christopher Trimmel. Aber auch, dass Jordan Siebatcheu einen Elfmeter verschossen hatte.
Mehr Standard in einem Spiel geht nicht. Eigentlich. Vor allem dann, wenn das Spiel nach einem Rückstand gedreht wird. Trotzdem war Fischer überzeugt davon, dass noch mehr möglich ist. Prompt legte Union beim 2:1 in Bremen durch Kevin Behrens (Kopfball nach Ecke), beim 2:0 im Derby bei Hertha BSC ein weiteres Mal durch Doekhi (Kopfball nach Freistoß) und in dieser Woche beim 2:1 im Achtelfinale des DFB-Pokals gegen den VfL Wolfsburg durch Robin Knoche (Schuss nach kurz ausgeführter Ecke) überaus erfolgreich nach.
Standards, gut ausgeführt, können sportlich eine Waffe sein. Sie sind wichtig und sorgen manchmal für den Triumph sogar bei großen Turnieren. Mit Hilfe eines Elfmeters von Paul Breitner kam Deutschland 1974 zurück ins WM-Finale und gewann schließlich gegen die Niederlande mit 2:1. In Rom 1990 sorgte Andreas Brehme mit einem verwandelten Elfmeter gegen Argentinien mit dem 1:0 für den nächsten WM-Triumph. Auf standardmäßige Weise gewann die deutsche Elf gegen Belgien das EM-Finale 1980, weil Horst Hrubesch in vorletzter Minute einen Eckball von Karl-Heinz Rummenigge zum 2:1 einköpfte.
Von den Anhängern der Eisernen werden deshalb, auch aufgrund der jüngsten Erfolge, Ecken und Freistöße aus dem Halbfeld fast als halbes Tor gefeiert. Ein wenig fühlen sich die Älteren im Fanblock ohnehin an Torsten Mattuschka erinnert, in der Alten Försterei einst der unumstrittene Meister des ruhenden Balles. „Freistoßgott“ haben sie ihn gerufen und ihm ein Lied („Torsten Mattuschka, du bist der beste Mann. Torsten Mattuschka, du kannst, was keiner kann!“) gewidmet.
Zweimal pro Woche trainiert Sebastian Bönig Unions Standardspezialisten
Inzwischen sagt sogar Tusche über die hohe Qualität der Standards: „Das ist gigantisch, und es ist in der Bundesliga mittlerweile als ‚typisch Union‘ angesehen.“ Nur: Es ist anders als noch zu seinen Zeiten mit Auge, Schuss, einigem Haudrauf und Tor. Es ist, zumindest manchmal, ein kleines Kunstwerk, das da zelebriert wird.
In den meisten Fällen ist es Trimmel, der die ruhenden Bälle schlägt. So gleich zu Saisonbeginn beim 3:1 gegen Hertha mit einer Ecke auf den Kopf von Robin Knoche, beim 1:1 gegen die Bayern mit einem Freistoß auf den Fuß von Sheraldo Becker oder eben zuletzt auf Danilho Doekhi. Auch Niko Gießelmann versteht sich auf diese Art der Torvorbereitung. Beim 6:1 auf Schalke servierte der linke Außenbahnspieler eine Ecke, die Morten Thorsby zur Führung nutzte, in Stuttgart zirkelte Gießelmann einen weiteren Eckball auf Paul Jaeckel, der den 1:0-Sieg besorgte. Eine kurze Ecke, letztlich hereingebracht von Jamie Leweling, führte im Herbst zum 2:1-Erfolg über Mönchengladbach. Mit Josip Juranovic haben die Eisernen für diese Kompetenz nun sogar Zuwachs bekommen. Der WM-Dritte mit Kroatien schlägt Ecken und Freistöße so gut wie Trimmel. Behrens mit seinem Treffer in Bremen und Knoche mit seinem jüngst gegen Wolfsburg waren dankbare Abnehmer.
Niemand erzielt in der Bundesliga nach Freistößen und Ecken so viele Tore wie der 1. FC Union. Doch das will geübt sein. Immer wieder. Ab und an sogar bis zum Erbrechen, damit die Laufwege stimmen und Automatismen greifen. Der Meister darin ist Sebastian Bönig, einst in der Alten Försterei selbst Liebling der Kurve, schon vor Fischer Co-Trainer der ersten Mannschaft, seit dem Amtsantritt des Schweizers aber schier unverzichtbar. Ein-, zweimal pro Woche schwört Bönig die Standardspezialisten auf ihre Aufgabe ein, verhilft ihnen in separaten Einheiten nach dem eigentlichen Training zum Feinschliff. Auch analysiert der einstige Mittelfeldspieler den Gegner so ausgiebig, dass er ziemlich häufig einen Weg findet, mit einem Freistoß oder einem Eckball dessen Abwehr auszuhebeln.
Auch dank Bönig sind die Eisernen Könige des Standards. Nur in der Königsdisziplin des Standards, dem Elfmeter, ist die Ausbeute armselig. Von fünf Versuchen hat lediglich einer gesessen, der vielleicht unwichtigste, den Sven Michel in Freiburg beim Stand von 0:4 zum Ehrentor nutzte. In jenem Spiel hatte zuvor Knoche – da stand es erst 0:2 – vergeben, auch Milos Pantovic hatte beim 1:2 in Bochum kein Glück. Siebatcheu hingegen, der bereits zweimal vom Punkt gescheitert ist, kam jeweils mit einem blauen Auge davon. In Köln (1:0) als auch gegen Hoffenheim (3:1) stand trotz seiner Fehlschüsse am Ende der Dreier. Logisch, dass Fischer mit dieser Bilanz unzufrieden ist: „Wenn du von fünf Elfmetern vier verschießt, sieht das nicht so gut aus. Natürlich üben wir das, nur sind Training und Spiel zwei völlig verschiedene Sachen.“
Dass es geht, hat Knoche in der Europa League bewiesen. Beim 1:0 gegen Malmö und beim 1:0 gegen Sporting Braga hat der Abwehrchef verwandelt wie geschnitten Brot und damit den Einzug in die Play-offs gegen Ajax Amsterdam maßgeblich ermöglicht. Einer der wichtigsten Elfmeter der jüngeren Vereinshistorie der Köpenicker hat zum Glück ja gesessen, der von Sebastian Polter gegen die Blau-Weißen aus Charlottenburg im ersten Erstliga-Stadtderby im Herbst nach dem Aufstieg.
Im Uniontrikot verschießt sogar Max Kruse einen Elfmeter
Scheitern können die Eisernen vom Punkt trotzdem ziemlich gut. Selbst Max Kruse, einer der kaltblütigsten Vollstrecker der Bundesliga, hat sich seinen einzigen Fehlschuss ausgerechnet für ein Spiel im Uniontrikot aufgehoben. Halb so schlimm, im Nachschuss hat Kruse seinerzeit dennoch getroffen.
Dafür hat Mainz 05, der Gegner am Sonnabend in der Alten Försterei, jemanden in den Reihen, der Elfmeter kann. Zumindest in dieser Saison. Weil Aaron und Jonathan Burkardt zwei Strafstöße vergaben, durfte die beiden nächsten Male Marcus Ingvartsen ran – und traf. Mit fünf Treffern ist der Däne dort nach Karim Onisiwo (sieben) zweitbester Saisonschütze. Für die Mainzer hat Ingvartsen in 38 Spielen elfmal getroffen und damit öfter als in 60 Spielen für die Eisernen. Bei ihnen reichte es nur zu acht Treffern. Wohl auch, weil er für die Könige der Standards auch mal, nämlich in Augsburg gegen seinen einstigen Mitspieler Rafal Gikiewicz, einen Elfmeter verballert hat.