Eigentlich könnte es bei Union nicht besser laufen. Der Verein ist Tabellenführer der Bundesliga und nach einem zunächst holprigen Start auch im europäischen Wettbewerb angekommen. Der sportliche Erfolg ist natürlich auch, wie bei vielen anderen Fußballvereinen, internationalen Nationalspielern zu verdanken. Einer von ihnen ist András Schäfer, seinerseits Nationalspieler von Ungarn. Dass Schäfer nun am vergangenen Dienstag von seinem Ministerpräsidenten auf dem Unioner Vereinsgelände besucht wurde, hat einen regelrechten Shitstorm ausgelöst, der derzeit den ganzen Verein überzieht. Zum großen Pech der Köpenicker heißt der aktuelle Ministerpräsident Ungarns Viktor Orbán. Mit Sicherheit hätte eine Visite der dänischen Regierungschefin Mette Frederiksen bei Union-Keeper Rönnow noch nicht einmal eine dpa-Meldung zur Folge gehabt. Aber Orbán ist eben Orbán.
In Deutschland ist nur Putin unbeliebter
Müsste sich Viktor Orbán in Deutschland zur Wahl stellen, würde derzeit wahrscheinlich nur ein Wladimir Putin noch ungünstiger in der Wählergunst abschneiden. Ein Erdogan hätte es beim deutschen Publikum sicher auch nicht leicht. Orbán gilt als Autokrat, dem nicht viel liegt an Rechtsstaatlichkeit und Pressefreiheit. Systematisch unterdrückt er Homosexuelle und die Opposition im eigenen Land. Zudem fällt er immer wieder negativ auf als Sanktionskritiker und Putin-Versteher.
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Jüngst schlug sogar die EU-Kommission vor, den Ungarn Zahlungen aus dem EU-Haushalt um 7,5 Milliarden Euro zu kürzen aufgrund von Korruption und Vetternwirtschaft. Alles Dinge, die in einer zumindest deklarativ werteorientierten Gesellschaft, als die sich Deutschland sehen möchte, nicht gut ankommen. Da Viktor Orbán sich aber nun mal nicht den deutschen Wählern stellen muss, sondern dem ungarischen Votum unterliegt, das ihn kürzlich erst in einem demokratischen Prozess als Ministerpräsident bestätigt hat, kann ihm das alles herzlich egal sein. Sein Deutschlandbesuch galt nicht der Eroberung der deutschen Herzen, sondern dem Austausch mit seinem Amtskollegen Olaf Scholz.
Werteorientierte Politik sollen die anderen machen
Orbáns Amtsbesuch im Kanzleramt bei Olaf Scholz und auch sein Treffen mit Ex-Kanzlerin Angela Merkel, das diese Woche auf dem Terminplan stand, verliefen im Vergleich zur Stippvisite in Köpenick nahezu unbemerkt. Noch nicht einmal die übliche Pressekonferenz, die nach Treffen mit Regierungschefs der Europäischen Union angesetzt wird, fand statt. Auch das Büro von Angela Merkel wollte zu Gesprächsinhalten keine Informationen preisgeben. Brisanter wurde es erst im Verlauf der Woche, als Orbán zu einem Pressetermin im Berliner Ewerk eingeladen war, organisiert von Cicero und der Berliner Zeitung.
Hier fielen schon die ersten Stimmchen, die sich daran verstörten, dass mit einem Autokraten überhaupt gesprochen wird. Mit Andersdenkenden gar nicht reden, ist gerade sehr en vogue in Deutschland. Der anschließende Abstecher bei András Schäfer in der Alten Försterei war dann aber definitiv zu viel für die integre deutsche Moral. In Zeiten einer werteorientierten (Außen-)Politik, wie sie vor allem Ministerin Baerbock gerne beschwört, müssten sich gewählte politische Repräsentanten durchaus mit jedem treffen können.
Es sei erinnert an die kürzlich stattgefundene Verneigung Robert Habecks vor dem Emir von Katar oder Olaf Scholz’ Handschlag mit dem saudischen Thronfolger Mohammed bin Salman. An alle, die die letzten Wochen und Monate verschlafen und den Wechsel der ehemaligen Schurkenstaaten auf die gute Seite verpasst haben, sei an dieser Stelle noch mal nachgereicht: Saudi-Arabien und Katar sind jetzt unsere Freunde! (Saudi-Arabien war es heimlich schon immer.) Ungarn aber weiterhin nicht mangels Gas- und Erdölvorkommen. Deshalb lautet die Devise: Bei Orbán kann die Wertekeule weitergeschwungen werden. Und wenn das unsere Volksvertreter nicht tun, sondern offizielle Staatsbesuche als Low-Key-Veranstaltungen unter den Teppich kehren, erwarten wir zumindest von allen anderen Akteuren des gesellschaftlichen Lebens (wie Journalisten, Sportlern oder Sportvereinen), dass höhere Maßstäbe angesetzt werden.
Union wehrt sich gegen die Vorwürfe
Der 1. FC Union Berlin bezeichnete das Auftauchen des kontroversen Gastes als einen „privaten Besuch Viktor Orbáns im Rahmen seines Deutschlandaufenthaltes“. Unions Pressesprecher Christian Arbeit erklärte am Mittwoch bei der Pressekonferenz vor dem Europa-League-Spiel gegen Malmö: „Es gab ein offizielles Schreiben der ungarischen Botschaft mit der Bitte, ein privates Treffen zu ermöglichen. Dieser Bitte sind wir nachgekommen. Auch aus Respekt vor dem Amt des Ministerpräsidenten. Wir haben ihn nicht offiziell empfangen.“
Der folgende Abschnitt aus Martin Walsers „Meßmers Gedanken“ fällt mir dazu ein: „Wenn mir einer seinen Besuch ansagt, erschreckt er mich. Ich will seinen Besuch nicht. Das kann ich nicht sagen. Mein Leiden nimmt zu bis zu seinem Eintritt. Wenn er hereinkommt, bin ich völlig wund. Um ihn nicht spüren zu lassen, wie wenig ich seinen Besuch ertrage, hindere ich ihn immer wieder am Gehen. Erst nachts um drei, wenn wir beide erschöpft sind, darf er hinaus. Ich fall’ in mein Bett und weine vor Freude.“
So ähnlich dürften sich die Verantwortlichen von Union gefühlt haben, als die Anfrage der ungarischen Botschaft eintrudelte. Was tun? Einem Regierungschef der Europäischen Union den Zutritt versperren und so erst recht einen diplomatischen Skandal auslösen? Jemand, der ins Kanzleramt darf, kann nicht in die Alte Försterei? In der Tat eine Bredouille. Zwar wurde Orbán nicht am Gehen gehindert, und er blieb glücklicherweise auch nicht bis drei Uhr nachts, dennoch kam die erwartete Kritik im Nachhinein. Vor allem aus dem eigenen Fanlager fiel diese heftig aus und war noch am verständlichsten. Dass Orbán Fotos mit Union-Trikot auf seinen Social-Media-Plattformen veröffentlichte, war ebenfalls wenig hilfreich.
Gefundenes Fressen für Presse-Moralapostel
Trotzdem geht es hier um etwas anderes. Dass ein Orbán-Kurzbesuch, der zwar nur dem Spieler Schäfer gilt, dennoch dem Unioner Image eher abträglich ist, steht außer Frage. Ein Verein wie Union Berlin, der durch sein soziales Engagement glänzt und sowohl in der Flüchtlingshilfe, Lebensmittelausgabe als auch in der Jugendsportförderung Großes bewirkt im Köpenicker Sozialraum, kann sich natürlich nicht mit der Ideologie eines Viktor Orbán gleichsetzen.
Tut Union zum Glück auch nicht! Im Gegensatz zum offiziellen Staatsbesuch am Montag im Kanzleramt war Orbán tatsächlich auf Privattour in Köpenick. Es gab keine offiziellen Statements oder Huldigungen diesbezüglich seitens Union. Ein EU-Regierungschef wollte einen seiner Staatsbürger besuchen, der Angestellter ist beim 1. FC Union Berlin. Diesem Wunsch wurde entsprochen. Nicht mehr, nicht weniger. Ein konkretes Stadionverbot oder eine Ausladung, wie sie viele Kommentare und Kolumnisten gewünscht oder als moralisch angebracht angesehen hätten, gab es nicht. Aber nochmals: Unser Kanzler trifft sich mit einem Mann, der vor vier Jahren als brutaler Mörder des Journalisten Khashoggi bewertet wurde. Unser Wirtschaftsminister entdeckt seine Liebe für Katar und eben auch Orbán, der Autokrat aus Ungarn, wird im politischen Berlin offiziell hofiert.
Wenn unsere Volksvertreter, deren Leitlinie doch eine werteorientierte Politik ist, diese selbst nicht einhalten, warum wird dann ein Riesenfass aufgemacht, wenn ein Fußballverein nicht päpstlicher ist als der Papst?
Viktor Orbán hat kein Einreiseverbot in Deutschland. Auch keine Bewegungseinschränkung. Als Ministerpräsident eines EU-Landes ist er auch nicht vom politischen Diskurs ausgeschlossen. Im Gegenteil. Dass seine Politik mit den Wertevorstellungen der meisten Menschen hier nicht übereinstimmt, ist richtig. Zu Recht bestehen auch moralische Bedenken und Erschütterungen im Umgang mit einem Viktor Orbán. Aber wenn wir damit beginnen sollen, sogar EU-Politiker gesellschaftlich auszuschließen, dann soll doch bitte unsere politische Führung den ersten Schritt setzen. Dies von einem Fußballverein zu erwarten, während die politischen Eliten die eigenen Wunschvorgaben ignorieren, kann nicht der Anspruch sein.
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