50 Jahre Bundesliga (1): „Wer solch ein Tor schießt, muss ein wenig verrückt sein“
Es ist der 30. September 2000. Ein Sonnabend. 15.30 Uhr: Anstoß zum Bundesligaspiel zwischen Hertha BSC und dem 1. FC Köln. Knapp 38 000 Zuschauer verfolgen im Berliner Olympiastadion die Partie bei sonnigem Wetter. Die Fans werden in diesem Spiel später Zeuge eines außergewöhnlichen Treffers, einem Tor des Jahres, das die ARD in der „Sportschau“ seit 1971 traditionell von ihren Zuschauern küren lässt.
Das Duell Hertha gegen Köln beginnt enttäuschend für die Gastgeber. Es sind gerade 28 Minuten gespielt und die Kölner führen bereits mit 2:0. Dann bahnt sich ein Spektakel an. Der Brasilianer Alex Alves, den Hertha BSC im Januar 2000 für die vereinsinterne Rekordsumme von 15,2 Millionen Mark (7,6 Millionen Euro) von Cruzeiro Belo Horizonte verpflichtet hatte – er ist der erste Brasilianer überhaupt im Verein – steht am Mittelkreis bereit. Er will mit seinem Teamkameraden Michael Preetz nach dem zweiten Gegentreffer den Anstoß ausführen. An der Seitenlinie fuchtelt Trainer Jürgen Röber wild mit den Armen und redet auf seinen Assistenten Bernd Storck ein. Manager Dieter Hoeneß verlässt derweil wutentbrannt seinen Platz auf der Ehrentribüne und hastet Richtung Trainerbank.
Kunstschuss aus 52,10 Metern
Alle Blicke sind auf Alves gerichtet, den Millionenmann, von dem man natürlich immer Außergewöhnliches erwartet. Alves, der sich in Berlin schon als Enfant terrible einen Namen gemacht hat, scheint kurz zu überlegen: Was tun? Alle Gegner umspielen und ein schnelles Tor schießen? Er entscheidet sich anders. Alves geht zwei kurze Schritte und zirkelt den Ball kunstvoll in den Himmel. Der Ball fliegt und fliegt und schlägt schließlich ohne vorher aufzutippen hinter dem verdutzten Kölner Torhüter Markus Pröll ein. 1:2! Die Zuschauer jubeln. Sie ahnen in diesem Moment vielleicht schon, dass sie ein historisches Tor gesehen haben – falls sie es auch wirklich mitbekommen haben. Denn die meisten Beobachter waren total überrascht. Sie ärgerten sich noch über das Kölner Gegentor unmittelbar zuvor.
Dieter Hoeneß etwa wird später erzählen, dass er den gewaltigen Schuss von Alves erst in der Wiederholung auf der großen Videotafel genießen konnte. Später lassen Journalisten der Bild-Zeitung noch einmal exakt die Entfernung des Schusses nachmessen. Das Resultat: 52,10 Meter. Nach dem kuriosen Treffer dreht Hertha BSC das Spiel, alle sind beflügelt, stürmen pausenlos und die Berliner siegen noch deutlich 4:2. Dass Alves beinahe gar nicht gespielt hätte, ahnt da noch niemand.
Die Zuschauer der ARD wählen den extremen Weitschuss, den Alves später als den schönsten Treffer seiner Karriere bezeichnet, zuerst zum Tor des Monats September und später gar zum Tor des Jahres 2000. Alves, der den Trainerstab auch mit außergewöhnlichen und skurrilen Aktionen außerhalb des Platzes auf Trab hält, ist sehr stolz auf die Auszeichnung. „Das war wie ein Wunder“, sagt er.
„Wer solch ein Tor schießt, der muss ein wenig verrückt sein“, behauptet sein Trainer Jürgen Röber. Dieses Urteil bestätigt Alves öfters, als es der Vereinsführung lieb ist. Mal kommt er zu spät zum Training, weil er die Sommerzeit nicht kennt, mal, weil er an der Parkhausschranke verzweifelt. Ein anderes Mal springt er bei der Kernspintomografie aus der engen Untersuchungsröhre, weil er plötzlich Hunger verspürt. Die Ärzte sind entsetzt. Dennoch: Auf dem Rasen zeigt er ab und an geniale Momente. Der Brasilianer war der erste Hertha-Profi, dem die Ehrung Tor des Jahres zuteil wurde. Er ist bislang der einzige geblieben.
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Heute Abend wird im Berliner Jahnsportpark an den im November vorigen Jahres an einer seltenen Knochenmarkserkrankung im Alter von nur 37 Jahren gestorbenen Alves mit einem Abschiedsspiel ehemaliger Profis und Mitspieler erinnert. In der Halbzeitpause sollen Zuschauer versuchen, wie einst Alves aus 52,10 Metern Entfernung bis ins gegnerische Tor zu treffen. Auch ohne Gegenspieler ist das ein sehr schwieriges Unterfangen.
Vom extrovertierten Alves stammt der Spruch: „Ich bin überzeugt, dass Gott gewollt hat, dass ich als Fußballer auf die Welt komme.“ Seinen legendären Schuss ins Kölner Tor empfanden im Jahr 2000 immerhin 37,5 Prozent der Sportschau-Zuschauer, die sich an der Wahl zum Tor des Jahres beteiligten, als größte Tat – ein eindeutiges Votum. Alves schlug Bixente Lizarazu (11,1 Prozent) und Mehmet Scholl (9,2 Prozent). Andere Wahlen gingen knapper aus, aber für jeden der bislang Gekürten war es oft der wunderbarste Treffer seiner Karriere, das Tor, dass ihn die gesamte Laufbahn begleitete oder auch verfolgte, und von denen die Fans bis heute an den Stammtischen schwärmen. Das Tor des Jahres gehört längst zur Bundesligageschichte. Es zählt zum Inventar wie die „Sportschau“ selbst, wie die güldene Meisterschale oder die altehrwürdige Kanone für den besten Torschützen der Saison. Die Idee, die schönsten, kuriosesten oder auch wichtigsten Treffer zu küren, kam aus England. Die BBC lässt seit 1970 das „Goal of the Month“ wählen. Die ARD zog nach und rief dann das Tor des Monats 1971 ins Leben – fast acht Jahre nach Gründung der Bundesliga. Anfänglich wurde noch sehr umständlich per Post abgestimmt, derzeit per Telefon und vor allem im Internet. Tausende Zuschauer beteiligen sich stets an der Umfrage. Das Interesse ist ungebrochen.
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Es war der Däne Ulrik Le Fevre von Borussia Mönchengladbach, dessen Treffer am 23. Oktober 1971 im Spiel gegen Schalke 04 (7:0) zum ersten Tor des Jahres gekürt wurde. Le Fevre gelang ein wunderschöner Drehschuss. Schon ein Jahr später kam es zu einem Kuriosum: Zum bislang einzigen Mal wurde die begehrte Auszeichnung gleich an zwei Profis vergeben. Damals wurde der Schütze Günter Netzer in einem Länderspiel gegen die Schweiz, das 5:1 endete, per Hackentrick von Gerd Müller angespielt. Da sich alle Gegenspieler auf Torjäger Müller konzentrierten, konnte Netzer nahezu ungedeckt einschießen. Die Zuschauer aber honorierten auch das exzellente Zuspiel von Gerd Müller. Der bekam als einziger Spieler die Auszeichnung, ohne selbst getroffen zu haben. Oft waren es aber spektakuläre Weitschüsse, wie der von Alex Alves, die in der Gunst der ARD-Zuschauer am höchsten standen. Klaus Augenthaler, Bernd Schuster oder Diego verewigten sich so in der Siegerliste. Schuster, damals bei Bayer Leverkusen, gelang das Kunststück, 1994 die ersten drei Plätze bei der Wahl zu ergattern, er hatte zuvor die Tore des Monats April, August und Dezember erzielt.
Und auch Hertha BSC traf es einmal auf der Gegenseite, als im DFB-Pokal gegen den Drittligisten TuS Koblenz der bis dato völlig unbekannte Mittelfeldspieler Michael Stahl aus 61 Metern den Berliner Keeper Marco Sejna überwand. Stahl avancierte zum überregionalen Helden, wurde in der ARD für das Tor des Jahres 2010 geehrt, in Koblenz herumgereicht und erfreut sich noch heute großer Beliebtheit. Solch ein Tor wird er freilich nie wieder erzielen. Schildern aber muss er seine einstige Großtat immer wieder – so wie die anderen Umfragesieger auch.
Flucht ins Disneyland
Auch der ehemalige Hertha-Trainer Jürgen Röber, der einst den Individualisten Alex Alves teamfähig machen musste, besaß als Profi einen ungewöhnlich straffen Schuss. „Ach“, sagt er, „ich war bestimmt zehn Mal in der Auswahl zum Tor des Jahres, habe es aber nie geschafft. Ich hätte liebend gern gewonnen. Einmal bin ich Zweiter in der Umfrage geworden.“
Dass sein Schützling Alex Alves überhaupt zu seinem spektakulären Treffer gegen Köln kam, hat der Brasilianer auch Röber zu verdanken. Beinahe nämlich hätte Alves gar nicht gespielt. „Dem ging es wieder mal schlecht in der Fremde“, erzählt Röber, „der wollte für ein paar Tage aus Berlin flüchten.“ Einen Tag vor dem Bundesligaspiel gegen Köln stand er mit voll gepacktem Auto vor Röbers Tür und wollte unbedingt mit Frau und Kleinkind nach Paris ins Disneyland fahren. „Eine Stunde habe ich auf ihn eingeredet, bis er geblieben ist.“ Unter Röber gab es beinahe in jedem Training intensive Torschussübungen. Dabei wusste der Coach einen Trick, wie er besonders solch lauffaule Spieler wie Alves, der ungern Defensivarbeiten verrichtete, locken konnte. „Wenn beim Üben zu oft neben oder übers Tor geschossen wurde, habe ich sofort Lauftraining angeordnet“, sagt der 59-Jährige. Das hat einer wie Alex Alves lieber vermieden. Vielleicht hätte er sonst auch keine Kraft gehabt für sein Tor des Jahres. Das haben einst die Anhänger von Hertha in einer großen Umfrage zum „schönsten Tor in der Bundesligageschichte“ ihres Vereins gekürt. Eine sehr gute Wahl.