Champions League: Jürgen Klopp macht die Leute glücklich
Das Spezielle an der Beziehung zwischen Jürgen Klopp und Liverpool ist, dass der Trainer wohl auch ohne sportlichen Erfolg beliebt wäre. Er passt zu der Stadt.

Man kann Jürgen Klopp in Liverpool besuchen und ein Foto mit ihm machen, einfach so. Der Weg von Lime Street Station, dem Hauptbahnhof der Stadt im Nordwesten Englands, ist nicht weit, nur rund 20 Minuten zu Fuß, wenn man weiß, wohin man muss. Im Baltic Triangle, einem Viertel mit alten Industriegebäuden, in denen sich mittlerweile Bars, Cafés und teure Modegeschäfte befinden, gibt es ein Wandgemälde von Jürgen Klopp, an der Ecke von Jamaica Street und Jordan Street.
Klopp schaut zur Seite und hat den Kopf leicht gehoben. Seine rechte Hand hat er auf sein Herz gelegt. Es ist die typische Klopp-Geste, die Geste, mit der er sich oft nach den Spielen im Anfield-Stadion von den Zuschauern verabschiedet. Das Wandgemälde ist zur Attraktion geworden, seitdem es der Verein Ende 2018 hatte anfertigen lassen. Man trifft an der Ecke von Jamaica Street und Jordan Street Fans des FC Liverpool, genauso wie Touristen mit ihren Selfie-Sticks.
Es gehört schon ein bisschen was dazu, um zur Kultfigur zu werden in Liverpool, der Stadt der Beatles, aber als Trainer des Liverpool Football Club sind die Chancen dafür gut. Bei anderen Vereinen hat ein Trainer, etwas verkürzt gesagt, die Aufgabe, die Mannschaft bestmöglich auf das nächste Spiel vorzubereiten und der Presse hinterher zu erklären, warum das Spiel gelaufen ist, wie es gelaufen ist. Beim FC Liverpool erwarten die Menschen mehr von einem Trainer. Er muss eine Art Schutzpatron der Stadt sein, ein Mann des Volkes, der sich als Diener der Fans begreift und die Überzeugung in sich trägt, dass große Leistungen nur gemeinsam möglich sind.
Dieses Anforderungsprofil geht zurück auf den heiligsten aller Liverpool-Trainer, auf Bill Shankly, einen bekennenden Sozialisten, der in den Sechzigern und frühen Siebzigern die Basis für den späteren Weltruhm des Vereins legte. Vor dem Anfield-Stadion steht eine Shankly-Statue. Auf dem grauen Marmorsockel heißt es in goldenen Buchstaben: „He made the people happy.“ Er hat die Leute glücklich gemacht. An Shankly werden alle Trainer des FC Liverpool gemessen, und man ist am River Mersey überzeugt, dass Klopp, dieser bärtige Deutsche mit den leuchtend weißen Zähnen, derjenige ist, der Shankly am nächsten kommt.
Seit Oktober 2015 arbeitet Klopp, 54, in Liverpool. Er hat den Verein seitdem transformiert. Englands einstiger Rekordmeister ist nach langer Dürrephase wieder eine der besten Mannschaften der Welt. 2020 beendete Klopp das drei Jahrzehnte lange Warten des Klubs auf den Meistertitel. In dieser Saison hätte es fast wieder geklappt, nur einen Punkt betrug am Ende der Rückstand auf Manchester City. An diesem Samstagabend könnte Liverpool zum zweiten Mal in drei Jahren die Champions League gewinnen, im Finale in Paris geht es gegen Real Madrid. Es wäre der insgesamt siebte Erfolg für Liverpool in Europas Besten-Wettbewerb. Dank Klopp können die Fans wieder stolz sein auf ihren Verein. Er hat die Leute glücklich gemacht – das könnte irgendwann auch auf seiner Statue stehen.
Jürgen Klopp musste sich nie besonders bemühen, eine Verbindung zu den Menschen in Liverpool aufzubauen. Es ist einfach passiert, ganz natürlich.
Das Spezielle an der Beziehung zwischen dem deutschen Trainer und Liverpool ist, dass Klopp möglicherweise auch ohne sportlichen Erfolg beliebt wäre, einfach deshalb, weil er zu der Stadt und ihren Einwohnern passt. Er verkörpert, wie ein Trainer des Liverpool Football Club sein sollte. „Er musste sich nie besonders bemühen, eine Verbindung zu den Menschen in Liverpool aufzubauen. Es ist einfach passiert, ganz natürlich. Seine Haltung und seine Ansichten sind nahe an denen der Fan-Basis des FC Liverpool“, sagt Tony Evans, Journalist des Independent und Fachmann für die Kultur der Scousers, wie sich die Bewohner Liverpools nennen.
Er meint damit, dass Klopp politisch eher links der Mitte verortet wird, sich als Internationalist versteht und an die Stärke der Gemeinschaft glaubt. Das findet auch Ausdruck in seinem Fußball. Klopp-Fußball ist kein Heldenfußball, sondern Fußball, bei dem der Außenverteidiger Andrew Robertson, der noch vor nicht allzu langer Zeit in der Telefonzentrale des schottischen Verbandes arbeitete, genau so wichtig ist wie Mohamed Salah, der Torjäger und größte Star des FC Liverpool.

Wenn man so will, spiegelt Klopps Fußball das Selbstverständnis der Stadt Liverpool. Es zeichnet sich durch unerschütterlichen Gemeinsinn aus. Das hat damit zu tun, dass die Stadt eine Sonderrolle im Vereinigten Königreich einnimmt. Sie sieht sich als autonomes Gebiet, das mit dem Rest des Landes nicht viel zu tun hat und das Londoner Establishment verachtet, seitdem Premierministerin Margaret Thatcher Liverpool in den Achtzigern angeblich vorsätzlich zugrunde gerichtet hatte. Den Institutionen und Symbolen des Staates steht Liverpool ablehnend gegenüber. Es war keine Überraschung, dass die Fans des Klubs kürzlich beim Finale des FA-Cups (Sieg im Elfmeterschießen gegen den FC Chelsea) die Nationalhymne ausbuhten. Genauso erwartbar war die Empörung der konservativen Boulevardpresse und von Premierminister Boris Johnson darüber.
„Er versteht, was den Fans wichtig ist. Er tut einfach die richtigen Dinge. Und das nicht, weil er es muss, sondern, weil es seiner Persönlichkeit entspricht.“
Sich aufzulehnen gegen die Mächtigen, das gehört zur Identität in Liverpool. Es kam deshalb gut an, dass Klopp die Uefa kürzlich dafür kritisierte, dass sie Sponsoren und VIPs mehr Karten für das Champions-League-Finale zugeteilt hat als jeweils den Fans von Real Madrid und Liverpool. Das sei wieder mal ein Beweis dafür, dass es Europas Fußballverband nur noch um Geld gehe, sagte Klopp. „Er versteht, was den Fans wichtig ist. Er tut einfach die richtigen Dinge. Und das nicht, weil er es muss, sondern, weil es seiner Persönlichkeit entspricht“, findet Joe Blott, Vorsitzender von „Spirit of Shankly“, dem Dachverband der Liverpool-Fans. Wenn jemand automatisch und ohne Vorbehalte tut, was sein Charakter ihm vorgibt, nennt man das „Authentizität“. Klopp ist im besten Sinne authentisch, so sehen das die Menschen in Liverpool.
Sportlich gibt es im Moment keinen besseren Klub für Klopp
Er hat verinnerlicht, was der Liverpool Football Club bedeutet. Er weiß, dass der Verein größer ist als er selbst. Als Klopp gerade seinen Vertrag bis 2026 verlängerte, ließ er sich auf der Klub-Homepage so zitieren: „Es gibt so viele Wörter, mit denen ich beschreiben könnte, wie ich mich wegen dieser Nachricht fühle … – erfreut, demütig, gesegnet, privilegiert und aufgeregt könnten ein Anfang sein.“ Er hatte gute Gründe für die Vertragsverlängerung. Liverpool ist eine der besten Mannschaften der Welt und hat nach dem Ende der zermürbenden Corona-Geisterspiele wieder jene Energie, die den Verein beim Gewinn der Champions League 2019 und der Meisterschaft 2020 angetrieben hatte. Liverpools Zukunft ist golden. Sportlich gibt es im Moment keinen besseren Klub für Klopp.
Aber es ist eben auch die Wertschätzung, mit der ihm die Menschen in Liverpool begegnen, die ihn – und seine Frau Ulla – zum Bleiben bewegt hat. „Ich dachte nicht, dass wir noch mal einen Ort finden, an dem wir uns so willkommen fühlen, und wo ich auch noch nützlich bin“, sagte Klopp. Aber genau das ist passiert. Nach seinen Stationen bei Mainz 05 und Borussia Dortmund ist er zum dritten Mal bei einem Verein und in einer Stadt heimisch geworden. Zum dritten Mal ist er zur Kultfigur aufgestiegen, nicht nur wegen der sportlichen Erfolge – sondern auch, weil es einfach passt. Klopp blüht auf in der besonderen Rolle, die ein Trainer des FC Liverpool hat. Er macht die Leute glücklich.