Demenz, Epilepsie, Parkinson: Werden Sportler vor bleibenden Schäden geschützt?

In vielen Sportarten wie Rugby, Football, Fußball oder Bobfahren sind Gehirnverletzungen ein ernstzunehmendes Problem. Viele Fragen bleiben offen.

Der ehemalige Kapitän der walisischen Rugby-Union Ryan Jones (ARCHIV)
Der ehemalige Kapitän der walisischen Rugby-Union Ryan Jones (ARCHIV)IMAGO

Ryan Jones spielte 15 Jahre Rugby auf höchstem Niveau. Heute ist er 41 Jahre alt, kennt die Spielregeln nicht mehr und hat Angst vor der Zukunft. „Ich habe das Gefühl, meine Welt bricht zusammen“, sagte der ehemalige Kapitän der walisischen Nationalmannschaft in einem emotionalen Interview der Sunday Times. „Ich möchte einfach nur ein glückliches, gesundes, normales Leben führen. Ich habe das Gefühl, dass mir das genommen wurde und dass ich nichts tun kann.“ Genommen wurde die sorgenfreie Zeit von jener Sportart, die ihm 15 Jahre lang ein „Leben wie ein Superheld“ bescherte.

Im vergangenen Dezember stellten Ärzte bei Jones Demenz im Frühstadium fest. Seine Partnerin Charlotte beschreibt Unterhaltungen mit ihm „wie ein Gespräch mit meinem 85-jährigen Großvater“. Jones' Erkrankung ist wohl auf das Rugbyspielen zurückzuführen, auf die vielen krachenden Zusammenstöße und Gehirnerschütterungen. Zusammen mit mehr als 100 ehemaligen Spielern klagt er gegen den Rugby-Weltverband sowie die nationalen Verbände von England und Wales. Diese, so der Vorwurf, sollen die Profis nicht ausreichend vor bleibenden Schäden durch Gehirnerschütterungen geschützt haben.

Der Rugbysport laufe „kopfüber und mit geschlossenen Augen in eine katastrophale Situation“, sagte Jones. Eine Studie der Durham University deutet darauf hin, dass er mit dieser Einschätzung richtig liegen könnte. Angstzustände, Depressionen und Schlafstörungen traten bei den befragten Rugby-Profis häufiger auf als bei Amateuren oder Athleten, die Sportarten ohne Körperkontakt betreiben. Je mehr Gehirnerschütterungen, desto schlechter die psychische Gesundheit nach der Karriere. Anwalt Richard Boardman, der die Rugby-Spieler in der Sammelklage vertritt, spricht bei den durch Rugby verursachten Gehirnkrankheiten von einer „Epidemie“.

Neben der Menge an Gehirnzellen nimmt auch deren Leistungsfähigkeit ab

Einige Mitkläger von Jones sind ebenfalls von früh einsetzender Demenz betroffen, andere klagen über Epilepsie oder Parkinson. Bei Jones vermuten die Ärzte zudem chronische traumatische Enzephalopathie (CTE). Wie Parkinson und Demenz ist CTE eine neurodegenerative Krankheit, bei der Gehirnzellen absterben, ohne nachgebildet zu werden. Grundsätzlich ein normaler Vorgang beim Altern, neurodegenerative Erkrankungen beschleunigen den Prozess allerdings. Neben der Menge an Gehirnzellen nimmt auch deren Leistungsfähigkeit ab. Als Auslöser für CTE, die nicht heilbar ist, gelten wiederholte Kopferschütterungen.

Welche Folgen Schläge auf den Kopf haben können, ist schon seit längerem bekannt. In den 1920er-Jahren wurde das „Punch Drunk“-Symptom bei Boxern beobachtet und sogar popkulturell verarbeitet. 1955 gewann Marlon Brando für seine Rolle im Film „Die Faust im Nacken“ einen Oscar. Er spielte darin einen Boxer, dessen Verhalten auf CTE hindeutet. Zu den Symptomen gehören unter anderem Gedächtnisverlust, Verwirrung, Aggressionen, Depression und Suizidalität.

Vor zehn Jahren über 4500 ehemalige Footballprofis vor Gericht

Die Krankheit wird besonders mit Football assoziiert, seitdem Rechtsmediziner Bennet Omalu sie 2002 erstmals bei einem Football-Profi diagnostizierte. Die Football-Liga NFL war sich durchaus bewusst, was ihre Sportart mit den Köpfen der Spieler anstellte. 1994 rief die Liga ein Komitee für „Mild Traumatic Brain Injuries“ ins Leben, das allerdings vor allem damit glänzte, die Langzeitfolgen von Gehirnerschütterungen kleinzureden. Mittlerweile ist der Zusammenhang zwischen Football und CTE nicht mehr zu leugnen: 2017 untersuchte die Boston University 111 Gehirne ehemaliger NFL-Spieler und fand in 110 von ihnen CTE. Ähnlich wie nun die Rugby-Spieler zogen vor zehn Jahren mehr als 4500 ehemalige Footballprofis vor Gericht. Die NFL stimmte schließlich einem Vergleich zu, durch den die Spieler Entschädigungen von insgesamt einer Milliarde US-Dollar erhielten.

Es ist wohl die Angst vor solchen Klagen, die Sportverbände und Ligen davon abhält, die Gefahren ihrer Sportarten für das Gehirn öffentlich anzuerkennen. Beim Umgang mit Gehirnerschütterungen richten sich viele Verbände, darunter FIFA, World Rugby und das Internationale Olympische Komitee, nach der „Concussion in Sports Group“ (CISG). Diese bringt alle vier Jahre Experten zusammen und veröffentlicht ein Consensus Statement, das den aktuellen Forschungsstand darlegt. Ärzten soll es dabei helfen, Gehirnerschütterungen bei Sportlern zu diagnostizieren und zu behandeln.

Ashley Westwood vom FC Burnley muss nach einer Verletzung medizinisch versorgt werden (ARCHIV)
Ashley Westwood vom FC Burnley muss nach einer Verletzung medizinisch versorgt werden (ARCHIV)PA Wire/Adam Davy

Was nach einer guten Sache klingt, stand zuletzt in der Kritik: Der CISG wird vorgeworfen, nicht unabhängig genug von den Sportorganisationen zu sein und vor allem das zu schreiben, was diese gern lesen. Ein „kausaler Zusammenhang“ zwischen CTE und Kontaktsportarten sei bisher nicht nachgewiesen, schrieb die CISG vor fünf Jahren. In einem kürzlich veröffentlichten Paper kritisierten die Autoren die CISG für diese Aussage. Mit „größtmöglicher Sicherheit“ sei davon auszugehen, dass wiederholte Schläge gegen den Kopf CTE verursachen.

Ob jemand Langzeitfolgen erleidet, hängt davon ab, wie häufig und mit welcher Wucht der Kopf erschüttert wird. „Bei den meisten neurodegenerativen Krankheiten wird davon ausgegangen, dass sie nicht durch nur eine Sache bedingt werden, sondern durch eine Kombination von Faktoren“, Koerte, Professorin für neurobiologische Forschung an der Ludwig-Maximilians-Universität und der Harvard Medical School. Welche Faktoren das sind, will sie mit ihrem Team herausfinden. Einige Ergebnisse deuten darauf hin, dass genetische Anlagen und kardiovaskuläre Fitness eine Rolle spielen.

Gehirne von Frauen reagieren anders auf Stöße als die von Männern

Die Einflussfaktoren zu bestimmen, gestaltet sich ähnlich schwierig wie die Diagnose. Bei Erkrankten lagert sich in bestimmten Gehirnarealen ein Protein ab, das nur eingefärbt unter dem Mikroskop erkennbar ist. Aktuell können Wissenschaftler deshalb CTE erst nach dem Tod mit Sicherheit feststellen. Wann das bei lebenden Menschen möglich sein wird, ist nicht abzusehen. „Wir nähern uns dem“, sagt Koerte. „Aber bei Alzheimer wird schon viel länger daran geforscht und man hat da auch noch nicht den einen definitiven Messwert gefunden.“

Was man mittlerweile weiß, ist, dass die Gehirne von Frauen anders auf Stöße reagieren als die von Männern. Frauen sind nicht nur anfälliger für Gehirnerschütterungen, sondern zeigen auch vielfältigere und stärkere Symptome. Weniger starke Nackenmuskulatur könnte einer der Gründe dafür sein, genau wie Hormone und die Beschaffenheit der Faserverbindungen im Gehirn. Dass es noch viele offene Fragen gibt, liegt nicht zuletzt daran, dass der gesellschaftliche, aber auch der wissenschaftliche Fokus meist auf männlichen Sportlern und nicht auf Sportlerinnen lag. Um das zu ändern, haben die Fußball-Stars Megan Rapinoe und Abby Wambach bereits angekündigt, ihre Gehirne der Forschung zur Verfügung zu stellen.

Demenz scheint ein Problem bei ehemaligen Fußballprofis zu sein

Football ist nicht die einzige Sportart, die in den letzten Jahren für Gehirnerkrankungen verantwortlich gemacht wurde. Eine Untersuchung mit 7676 ehemaligen Fußball-Profis zeigte 2019, dass diese häufiger an neurodegenerativen Krankheiten starben als die Normalbevölkerung. Insbesondere Demenz scheint ein Problem bei ehemaligen Fußballprofis zu sein. Von den englischen WM-Helden, die 1966 das Turnier gewannen, sind bereits mehrere Spieler daran erkrankt und gestorben.

Selbst Sportarten, bei denen es weder Körperkontakt noch Kopfbälle gibt, könnten auf Dauer dem Gehirn Schaden zufügen. Vier nordamerikanische Bobfahrer nahmen sich in den vergangenen Jahren das Leben. Nach ihrer Karriere litten sie unter chronischen Kopfschmerzen und psychologischen Problemen. Die New York Times brachte ihre Tode daher mit dem Bobsport in Verbindung, bei dem durch die hohen Geschwindigkeiten enorme Kräfte auf den Körper wirken. „Es ist, als wäre man gleichzeitig in einem Mixer und in einem Tornado“, beschrieb es einer der verstorbenen Fahrer. „Es schädelt“, nennen es Bob- und Skeletonfahrer, wenn eine Eisbahn den Schlitten besonders stark zum Ruckeln bringt.

Sollte man Tacklings und Kopfbälle komplett verbieten?

Um Athletinnen und Athleten zu schützen, überlegen sich Sportorganisationen, wie sie die Zahl der Zusammenstöße verringern können. In der NFL dürfen Teams während der Saison nur noch 14-mal mit Vollkontakt trainieren. Der englische Fußballverband FA startet in der kommenden Spielzeit eine Testphase, in der Kopfbälle bei Partien von unter 12-Jährigen verboten sind. Im vergangenen Jahr hat World Rugby ebenfalls Richtlinien zum Trainingsumfang veröffentlicht, mit denen die Anzahl der Tacklings verringert werden soll. Es handelt sich dabei aber lediglich um Empfehlungen.

Für Neurowissenschaftlerin Inga Koerte sind solche Maßnahmen ohnehin ein Nebenschauplatz, auf dem man der eigentlichen Frage aus dem Weg geht: Sollte man Tacklings und Kopfbälle komplett verbieten? „Wenn man sich dieser Frage aber nicht stellen will, weil diese Dinge integraler Bestandteil einer Sportart sind, kann man über solche Maßnahmen nachdenken“, sagt Koerte. Eine Altersgrenze bedeute aber nicht, dass Kopfbälle danach ungefährlich seien. Jedes Gehirn sei anders, pauschale Grenzen aus dem Forschungsstand sind nicht ableitbar. Koerte vergleicht das mit dem Rauchen von Zigaretten: „Klar ist es besser, Sie rauchen nur eine halbe statt einer ganzen Schachtel. Aber vielleicht hören Sie am besten einfach ganz damit auf.“