Fußball-Weltmeisterschaft in Russland: Wie das WM-Stadion in Kaliningrad den Aufschwung bringen soll

Kaliningrad - Die Nacht dämmert, die weißen Membranwände der Arena glimmen auf, aus der Ferne wirkt das Stadion Kaliningrad jetzt wie ein riesiges UFO, das auf den leeren Ebenen der Oktoberinsel gelandet ist. Aber drinnen schwillt sehr irdischer Lärm, die Ultras hinter dem Gästetor skandieren „Baltika, Baltika“, nach der nächsten vergebenen Chance stimmt das ganze Stadion ein, Laola schwappt durchs Rund.

Das Spiel zwischen dem FC Baltika Kaliningrad und dem FC Chimki rumpelt einem frustrierenden Null zu Null entgegen, aber die fast 26.000 Zuschauer feiern. Sie feiern ihr neues Stadion, seine tolle Akustik, sie feiern den Fußball als Hoffnung.  Am 14. Juni startet die WM in Russland. Kaliningrad, früher Königsberg, gehört zu den elf Austragungsorten. Im mit 35.200 überdachten Plätzen kleinsten Stadien-Neubau, aber auch einem der umstrittensten. Böse Zungen verspotten das teure Bauwerk auf der sumpfigen Oktober-Insel als Schildbürgerstreich. Aber Städtebauer, der FK Baltika, auch viele Kaliningrader hoffen auf einen neuen Impuls für das Leben nach der WM.

„Es gibt keinen großen Klub ohne großen Sponsoren“

Stunden vor dem Spiel hat sich viel Obrigkeit um das Stadion versammelt, in dunklen Zwirn gekleidet. Viele stecken sich wegen des heftigen Winds auf der Insel die Krawatten zwischen die obersten Hemdknöpfe. Nur Gouverneur Anton Alichanow trägt einen roten Trainingsanzug mit Nationalwappen. Alichanow, seit der Kindheit Kampfsportler, Doktor der Wirtschaftswissenschaften, mit 31 Jahren Russlands jüngster Gebietsgouverneur, ist jetzt Baltika-Fan − schon aus Finanzräson.

Um die Arena rentabel zu machen, hat er gesagt, müsse dort nach der WM eine Premierliga-Mannschaft kicken. Es gelte aufzusteigen, spätestens nächste Saison. Die Frage, ob das Stadion ohne Unterstützung eines großen Sponsors den Verein ernähren könne, ärgert ihn. „Es gibt auf der Welt keinen großen Klub ohne großen Sponsoren“, sagt er. „Ich verstehe nicht, worin sich Russland da von anderen Ländern unterscheiden soll.“

Natürlich haben auch westliche Profiklubs Sponsoren. Aber die sind meist nicht ihre Haupteinnahmequellen. So teilen sich die Vereine der Deutsche Fußballliga jährlich 1,16 Milliarden Euro aus TV-Rechten. Die Fernseheinnahmen der russischen Premjerliga betragen gerade 21 Millionen Euro. Ohne Gazprom, Lukoil oder die Eisenbahn, als Geldgeber spielt in Russland kein Klub oben mit. 

„Haben Sie Aussicht auf einen großen Sponsor, Herr Alichanow?“
„Es wird welche geben.“ „Kann man sie nennen?“ „Nein.“ Wie auch andere russische Offizielle sagt der Gouverneur, man wolle die beste aller Fußball-WM ausrichten, noch wichtiger aber sei die Infrastruktur, die sie hinterlasse. Dazu gehören in seiner Region der Küstenring, eine 185-Kilometer-Autobahn, die Kaliningrad mit dem gründlich modernisierten Flugplatz Chabrowo und den Ostseeküsten-Städten der Region verbindet.

Postmoderner Charme

Vier neue Hotels in Kaliningrad sowie die bunten für die Chruschtschow-Wohnblocks entlang der Lenin-Straße, die arg an Disney-Filmkulissen erinnern. „Wen wollen wir beeindrucken? Engländer, Belgier, Schweizer?“, räsoniert Alexander Baschin, früher Stadtarchitekt Kaliningrads. Man hätte die Häuser abreißen oder schlicht renovieren sollen, mit neuen Balkonen, neuem Anstrich. Manche Wohnhäuser der Breschnjew-Ära sind neu gestrichen, andere zum Teil, noch immer verbreiten grobporige graue Betonplatten sowjetische Traurigkeit. 

Aber Kaliningrad hat postmodernen Charme, preußische Bauten und Denkmäler ragen in Straßenzügen auf, die sehr europäisch wirken. 1944 bombte die britische Luftwaffe das Stadtzentrum platt, die Sowjets bauten es in schlichter Klassik wieder auf. „Unter Stalin hat man sehr solide gebaut“, sagt Baschin, „und die alten Proportionen beibehalten.“ Dazu kommen allerlei Erker und Türmchen. In den Neunzigerjahren war deutscher Stil schick, oder das, was Bauherren dafür hielten. Restaurants heißen „Steindamm“ und Cafés „Königsbäckerei“. Am Flughafen wird Immanuel Kants „Reine Vernunft“ auf russisch verkauft.

Schwankendes Land

Die Kaliningrader pflegen das ostpreußische Erbe. Und sie leben zwischen Polen, Lettland und Litauen, die EU ist ihnen näher als das „große Russland“, gerade junge Kaliningrader besorgen sich für 80 Euro Schengen-Jahresvisa, fahren zu Rockfestivals nach Gdansk. „Oder ich fliege von dort mit Ryanair in die Welt“, sagt Michail Michailowski, IT-Doktorant und Barcelona-Fan. Michail erzählt amüsiert, wie er sich mit einer französischen Freundin in Krakau traf, der man zu Hause Angst vor den Polen gemacht hatte. „Aber sie hat sich am ersten Tag in die Stadt verliebt.“ Die jungen Kaliningrader sind wohl die polyglottesten Russen.

Die Oktober-Insel hieß früher Lomse, altpreußisch etwa schwankendes Land. Den Westzipfel dieser Sumpfinsel bebauten die Preußen, gerade wird dort die 1938 zerstörte Synagoge neu errichtet. Auf den Morastwiesen östlich planten die Nazis einen monumentalen Sportpark, aber außer Schrebergärten und Garagen entstand nichts − bis zur WM.

Zu viel Raum

Jetzt fühlt sich der Boden vor dem Stadion statt eher nach Morast als nach Steppe an. „Aber das Stadion ist auf Sumpf gebaut“, ein einsamer Spaziergänger stellt sich als Stanislaw vor, pensionierter Ingenieur. „24 Meter lange Betonpfeiler in die Erde gerammt, die waren zu kurz, mussten mehrfach verlängert werden.“ 

Die Regionalregierung will das Stadion mit einem Sport- und Erholungspark umgeben, auch mit Wohnungen. Bleibt ein sehr russisches Problem: zu viel Raum. „Eine Million Quadratmeter, das wären Wohnungen für 40.000 Menschen“, sagt Architekt Baschin, „eine ganze Stadt.“ Schon jetzt würde in Kaliningrad zu viel gebaut, die Preise seien im Keller, die Qualität der Gebäude auch.

Der viertkleinste Etat

Das Stadion war teuer. Knapp elf Millionen Euro kassierte die Omsker Baufirma Mostowik nur für die Projektierung, laut der Aufsichtsbehörde Glawgosekspertisa dreimal mehr als nötig. Beim Trockenlegen der Insel karrten Subunternehmer viel weniger und schlechteren Sand heran, als vereinbart. Allein eine Firma des nun verhafteten Milliardärs Sijawudin Magomedow soll zehn Millionen Euro unterschlagen haben.

Anfang 2018 stellte sich heraus, dass der neue Sandboden absackt. „Die Arena versinkt unter der Erde“, titelte die Zeitung Sowetski Sport. Zwar versichern Experten, allein die Fläche des Stadions schütze es vor diesem Schicksal. Aber finanziell geriet es zum Königsberger Klops, 17,8 Milliarden Rubel teuer, 235 Millionen Euro. Ein vergleichbares Bauwerk, das Tivoli-Stadion in Aachen, 33.000 Zuschauerplätze, kostete 46 Millionen Euro − und riss den Zweitligaverein Alemania in den Konkurs.

150 weißblaue Ultras

Zwei Spieltage später ist klar: Der FK Baltika steigt nicht auf. Der Saisonetat von nur drei Millionen Euro, laut soccer.ru der viertkleinste aller Zweitligisten, hat nur für den fünften Platz gereicht. „Für die Premjerliga brauchst du eine gute Milliarde Rubel“, sagt Vereinssprecher Sergei Kandalow. Der Klub verhandle mit einem neuen Sponsor − aber ohne Aufstieg sei der Ausgang dieser Verhandlungen fraglich… Es klingt nach Teufelskreis.

Das alte Baltika-Stadium im Stadtzentrum hieß früher Walter-Simon-Sportplatz, 1892 eröffnet, Russlands ältestes Fußballstadion. Auf der Haupttribüne warten Konstantin und einige andere Mitglieder des Fanklubs Baltizy. Sie gehören zu den etwa 150 weißblauen Ultras, die bei den ersten Spielen die ganze Arena zum Skandieren brachten. Auf der Flagge, die sie ausbreiten, steht noch der alte Name ihres Fanklubs: Königslegion.

„Vor einigen Jahren hatten wir Rosatom als Sponsor“, erzählt Konstantin, „weil in der Region ein Atomkraftwerk gebaut wurde.“ Aber 2014 wurde das Projekt eingefroren, und die Rosatom-Hilfe für Baltika. Es mangele Kaliningrad einfach an Großkonzernen. Die Männer haben sich zunächst einmal Karten für die WM-Spiele gekauft.